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Digitalisierter Teilnachlass Paul Ben-Haims im Ben-Haim-Forschungszentrum der Hochschule für Musik und Theater München. Foto: HMTM

Digitalisierter Teilnachlass Paul Ben-Haims im Ben-Haim-Forschungszentrum der Hochschule für Musik und Theater München. Foto: HMTM

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Revision des herrschenden musikhistorischen Bildes

Untertitel
„NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ – ein neues Langzeitprojekt in München und Hamburg · Von Friedrich Geiger
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In der Musikpolitik des NS-Regimes lassen sich zwei komplementäre Richtungen unterscheiden. Die eine Richtung zielte auf eine aus Sicht des Regimes erwünschte Musik, die ihm nützte und es stabilisierte. Typische Funktionen waren beispielsweise die repräsentative Machtinszenierung; die Emotionalisierung von Propaganda oder die identitätsstiftende Gemeinschaftsbildung. Musik, die sich für solche Zwecke eignete, aber auch das konforme Verhalten derer, die sie ausübten, wurden gefördert und instrumentalisiert.

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Die andere Seite der Musikpolitik − und um diese geht es in unserem Langzeitvorhaben − bestand in Verfolgung, Ausgrenzung und Unterdrückung. Diese Seite richtete sich gegen Musik, die dem Regime nicht nützte, die sich nicht instrumentalisieren ließ oder sogar seinen Interessen entgegenwirkte. Dabei lieferte überwiegend fanatischer Rassismus das Verfolgungsmotiv. Bekanntlich äußerte er sich in erster Linie als radikaler Antisemitismus, aber auch Ressentiments gegen Sinti und Roma, Schwarze Menschen und andere ideologisch geächtete Gruppen bestimmten die NS-Kulturpolitik. Deren zentrales Anliegen benannte Joseph Goebbels’ Geschäftsführer Hans Hinkel öffentlich und unmissverständlich als „Säuberung des deutschen Kunst- und Kulturschaffens von den zerstörenden und artfremden Vertretern der jüdischen Rasse“.

Verschüttete Ideen und Werke

Dies schloss von vornherein die spurlose Tilgung aus dem kulturellen Gedächtnis ein − was dann zu weiten Teilen tatsächlich auch erreicht wurde. Denn nach 1945 waren die Möglichkeiten der meisten Verfolgten, sich wieder in die Musikgeschichte einzuschreiben, gering. Selbst wenn sie überlebt hatten, waren ihre Karrieren meist so stark beschädigt, dass sie weder an die vergangene Reputation anknüpfen noch eine neue aufbauen konnten. Ihre musikalische Praxis, ihre Werke und ihre Ideen blieben verschüttet. Spürt man diesen Biographien nach, gewinnt man rasch eine Vorstellung von dem gewaltigen Ausmaß, in dem der NS-Terror auch die Musikgeschichte prägte − nicht nur in Deutschland, Österreich und den annektierten oder besetzten Gebieten Europas, sondern infolge der weiträumigen Fluchtbewegungen der Verfolgten auch in globalem Maßstab.

Vor diesem Hintergrund haben sich bis heute schiefe Vorstellungen von der Musik des 20. Jahrhunderts festgesetzt. Der Status quo nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der faktisch ein Ergebnis der NS-Kulturpolitik war, wurde als ästhetisches Urteil der Geschichte akzeptiert. Daher erkannte man dann auch zentrale musikgeschichtliche Entwicklungen seit der sogenannten „Stunde Null“ nicht als Konsequenzen der NS-Zeit. Somit muss die Musikgeschichte des gesam­ten 20. Jahrhunderts, wie Wolfgang Rathert konstatiert, „einer tiefgreifenden Revision unterzogen“ werden, sie muss vervollständigt und zu weiten Teilen neu geschrieben werden.

Langzeitvorhaben

Dieser Aufgabe, die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts durch eine angemessene Berücksichtigung der globalen Konsequenzen der NS-Herrschaft zu revidieren und sie so weit wie möglich zu vervollständigen, widmet sich seit Beginn dieses Jahres das Langzeitvorhaben „NS-Verfolgung und Musikgeschichte. Revisionen aus biographischer und geographischer Perspektive“ der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Es wird in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater München und der Universität Hamburg durchgeführt. Die Gesamtleitung und die Leitung der Münchner Arbeitsstelle liegt beim Verfasser, die Hamburger Arbeitsstelle leitet Sophie Fetthauer. Die Projektdauer beträgt achtzehn Jahre, geplant sind insgesamt drei Post-Doc-Projekte, zwölf Dissertationsvorhaben, sechs internationale Kongresse und etliche Einzelstudien. Als grundlegendes Arbeitsinstrument nutzen und erweitern wir hierfür kontinuierlich das Online-Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, kurz LexM genannt (hierzu Näheres von Sophie Fetthauer auf Seite 34), das technisch durch Steffen Danek betreut wird. Damit lassen sich nicht nur einzelne Lebenswege nachvollziehen, sondern auch gruppenbiographische und kulturgeographische Zusammenhänge in ihren raumzeitlichen Horizonten deutlich machen.

Einer effektiven Revision des herrschenden musikgeschichtlichen Bildes stellen sich im Wesentlichen drei Aufgaben: Erstens müssen die Anteile des europäischen Musiklebens, die durch das NS-Regime zerstört wurden, so weit wie möglich rekonstruiert werden. Bereits Ende 1933 nahm die Reichsmusikkammer (RMK) als größte von sieben Abteilungen der von Joseph Goebbels geleiteten Reichskulturkammer ihre Arbeit auf. Die Mitgliedschaft war verpflichtend; wer ausgeschlossen wurde, wie es spätestens ab 1935 den meis­ten sogenannten „nichtarischen“ Mitgliedern widerfuhr, verlor das Recht zur Berufsausübung und damit die Exis­tenzgrundlage. Betroffen waren sämtliche Gebiete: Komposition wie Interpretation; die sogenannte „ernste“ Musik in gleichem Maß wie Operette, Unterhaltungsmusik und Jazz; Prominente wie Arnold Schönberg oder Marlene Dietrich, aber auch ganz unbekannte Klavierlehrer oder Verlagsmitarbeiterinnen; die Musikpublizistik ebenso wie die Musikpädagogik oder die Musikwissenschaft.

Verluste in besetzten Gebieten

Bis 1945 wurden die rassistischen Bestimmungen des Reichskulturkammergesetzes systematisch auf die annektierten und besetzten Gebiete ausgedehnt. Wer verlor hierdurch die Orchesterstelle, den Studienplatz oder die Auftrittsmöglichkeit, welches Repertoire wurde nicht mehr gespielt, welche Ensembles zerbrachen? Welche Musikerinnen und Musiker befanden sich unter den Menschen, die zu Tausenden in die Vernichtungslager deportiert wurden? Eine vollständige Rekonstruktion ist in Anbetracht der immensen Opferzahlen nicht zu leis­ten. Zumindest aber können wir auf der Grundlage einer stetig wachsenden Zahl von Biographien sukzessive identifizieren, welche Felder des Musiklebens vor der NS-Zeit sich am bes­ten eignen, um durch exemplarische Untersuchungen dem damaligen musikkulturellen Reichtum näherzukommen. Auf der gegenwärtigen Grundlage hat Ya’qub El-Khaled mit einem sechsjährigen Teilprojekt zur deutschsprachigen Musikpublizistik begonnen, das die intensiven damaligen Diskurse aufbereiten und weitere vergessene Namen liefern wird (siehe seinen Text auf Seite). Hinzu kommt ein weiteres Teilprojekt zum Thema „Jazz und NS-Verfolgung“, das der Verfasser bearbeitet.

Zwangsmigration

Als zweiter großer Bereich sind die Zwangsmigrationen der betroffenen Musiker und Musikerinnen und ihr weiteres Wirken zu eruieren.  Unter dem Begriff „Zwangsmigration“ verstehen wir jeden gewaltsamen Ortswechsel, der auf Druck des Regimes erfolgte. Zwischen 1933 und 1945 waren über 27 Millionen Menschen, darunter tausende Musiker und Musikerinnen, gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Bei der Forschung zur Zwangsmigration geht es somit zum einen um die Musikpraxis, die aus Verhaftungen und Deportationen resultierte: Musiziert wurde in den Gestapogefängnissen, in den Ghettos, in den Konzentrationslagern und Vernichtungslagern, aber auch an erzwungenen Aufführungsorten wie den Jüdischen Kulturbünden.

Der andere Bereich der Zwangsmigration umfasst die globalen Fluchtbewegungen nach 1933 und damit den weltweiten Transfer musikalischen Wissens und musikalischer Praxis aus dem NS-beherrschten Raum. einschließlich des Nachkriegsexils der KZ-Überlebenden. In diesem Bereich beginnen wir mit zwei dreijährigen Teilprojekten. Das „Musikerexil in Italien“ bearbeitet Sebastiano Gubian, während sich Madeleine Onwuzulike mit dem Thema „Das Werk Richard Wagners im Kontext von NS-Verfolgung und Exil 1933–1945: Aufführungspraxis und Diskurse“ beschäftigt. Später werden weitere gruppenbiographische Teilprojekte hinzutreten, darunter ein größeres zu den USA. Da die Fluchten wegen der immer größeren Ausdehnung des NS-Machtbereichs, Schwierigkeiten bei der Visabeschaffung oder plötzlicher Hilfsangebote aus anderen Ländern oft in mehreren Etappen kreuz und quer verliefen, spielt die Visualisierung von Geodaten, die Bonan Wei umsetzt, für unsere Arbeit eine zentrale Rolle. Dafür kooperieren wir mit dem Labor für Geoinformatik und Geovisualisierung der HafenCity Universität Hamburg, das von Jochen Schiewe geleitet wird.

Als dritter Bereich ist die Musikpraxis, die sich aus dem Wirken der Verfolgten an ihren Zufluchtsorten entwickelte, auf breiter Basis zu untersuchen. Gerade aus der Perspektive der Musik zeigt sich sehr deutlich, dass die Begegnung unterschiedlicher Kulturen nicht als Einbahnstraße verläuft. Vielmehr lässt sich ein komplexes Hin und Her von Wechselwirkungen beobachten, das wir als „musikkulturelle Transferdynamik“ bezeichnen. Selbstverständlich besaß jeder einzelne Transfer seine eigene Dynamik. Gleichwohl zeigen sich für bestimmte musikalische Berufsfelder typische Muster. So sind bei Komponisten und Komponistinnen in der Regel deutliche Reflexe der neuen Umgebung zu erkennen. Der Münchner Komponist Paul Frankenburger beispielsweise wurde in Palästina als Paul Ben-Haim zu einem Begründer der israelischen Nationalmusik, indem er seine ursprünglich spätromantische Klangsprache in ein impressionistisches Idiom überführte, das sich an die jüdische und arabische Melosphäre anlehnte. Für andere Musikberufe zeichnen sich hingegen eigene transferdynamische Profile ab. Dirigenten etwa hatten oft bereits vor ihrer Vertreibung internationale Erfahrungen erworben. Dies erleichterte ihnen die Fortsetzung ihrer Tätigkeit im Exil, wobei sie insbesondere in Ländern mit neugegründeten Orchestern willkommen waren, deren musikalische Identität es auszubilden galt. So wurden Erich Kleiber und Fritz Busch in Chile, Klaus Pringsheim und Joseph Rosenstock in Japan zu gefragten Orchestererziehern, deren Arbeit langfristig nachwirkte.

Dass für diese umfangreichen drei Bereiche auch in achtzehn Jahren kein vollständiges Bild zu gewinnen ist, ist klar. Wir können aber immerhin zu deutlichen Konturen beitragen. Dafür werden wir intensiv mit den zahlreichen nationalen und internationalen Initiativen zu diesem Thema zusammenarbeiten. Gemeinsam lässt sich, so hoffen wir, unser Verständnis der Musik des 20. Jahrhunderts verändern und bereichern – und so auch der Blick für die prekäre Situation von Musikerinnen und Musikern schärfen, die heute wieder von Terror betroffen sind.

Friedrich Geiger, Projektleiter und Leiter der Arbeitsstelle „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“ an der HMT München

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