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Vermisst gemeldet: das deutsche Bildungswesen

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Oder: Was uns der OECD-Bericht alles nicht verrät ·
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Im OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“ (UNO Verlag Bonn, 2004, ISBN 92-64-01820-4, 528 Seiten, 49 Euro) steht nichts über Musik und Musikunterricht. In dem opulenten, bemüht kommentierten Tabellenband erscheint in den Zahlenkolonnen ein kleines „m“(„missing“), wenn es den nationalen Datensammlern nicht gelang, eine Zahl nach Brüssel zu faxen. Dort hat man nationale, also bekannte, Zahlen verrechnet und gewichtet und präsentiert nunmehr den internationalen Vergleich.

Helle Aufregung – obwohl alle Ergebnisse bekannt sein müssten. So steht im Bericht noch mal alles zu PISA und zu IGLU, über deren Ergebnisse man sich hier folgenlos und beliebig aufregen durfte (Achtung für alle Hysteriker: am 7. Dezember 2004 gibt es neue PISA-Ergebnisse). Und das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat den Bericht gar ins Deutsche übersetzt – da hätte die Frau Ministerin ja nun bestens vorbereitet in die Pressekonferenz gehen können. Das war ja offensichtlich nicht der Fall. Warum? Aus einem solchen Tabellenband kann man sich die tollsten Theorien herauslesen, eine Integration der Befunde gibt’s nicht, eine Kurzzusammenfassung ist immer tendenziell, also kann man sich nicht passend vorbereiten.

„Bildung auf einen Blick“ enthält etwas über die Stundentafeln in den OECD-Ländern: Sprach- und Mathe-Unterricht ist führend (im Schnitt 24 beziehungsweise 16 Stunden in der Primarstufe (P), 16 beziehungsweise 13 in der Sekundarstufe (S), S. 393/394) – Musik taucht nicht auf, dafür „Kunst“ mit 12 Stunden (P bzw. 8 in S). Ein Hinweis auf www.oecd.org/edu/eag 2004 liefert im Anhang die Fächerklassifikation – und eine Auflösung des Rätsels. „Arts“ steht da, umfasst die Fächer „arts, music, visual arts, practical art, performance music, photography, drawing, creative handicraft, creative needle works“. Schade – „m“ wie „music“ oder „missing“. Vielleicht hätten wir ausgerechnet dort einen „unique selling point“, ein in der Globalisierung so wichtiges „Alleinstellungsmerkmal“, das es auszubauen gälte.

„Bildung auf einen Blick“ liefert wie TIMSS oder PISA keinerlei Beweise für die Überlegenheit des Gesamtschulsystems (gute wie schlechte Länder haben eins), keinerlei Beleg für die Effektivität der Früheinschulung (Siegerland Finnland schult mit sieben Jahren ein), keinerlei Hinweise auf die Faktoren, die Unterricht wirkungs-voll machen (die PISA-Siegerländer unterrichten lehrerzentriert). Dieses Missverständnis der akademischen Stammtische hält sich als contrafaktische Ideologie wie die Sprayerfarbe an den Hauswänden – schade, ein Defizit empirischer Argumentationsfähigkeit. Auch der glorifizierende Blick nach Skandinavien hält der Realität nicht stand: die Leseleistungen schwedischer Schüler sind von 1991 auf 2001 zurückgegangen (S. 91), in allen skandinavischen Ländern haben die Schüler weniger Unterricht als in Deutschland (S. 388). Aber: Schüler in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur Schule und eine überdurchschnittlich hohe Unterrichtsbeteiligung (S.127/128 – auch wenn hier Text und Tabelle mal wieder nicht zusammenpassen).

„m“ wie „missing“ sind in allen Vergleichsuntersuchungen von TIMSS bis PISA die zentralen Antworten auf die Frage nach der Qualität von Bildung, da Einmalmessungen keine sicheren kausalen Schlussfolgerungen zulassen. Hundert Schuldige kommen für ein gutes oder schlechtes Ergebnis in Frage. War’s das System? Die fähigen oder unfähigen Lehrer? Die begabten oder unbegabten Schüler? Die Schüler, die kein Deutsch sprechen? Die Mittelwerte – das ist seit den Tagen der Statistiker Cournot und Condorcet bekannt, ergeben zusammengefügt kein zutreffendes Bild der Gestalt: aus den Durchschnittsseiten von rechtwinkligen Dreiecken lässt sich zwar ein Durchschnittsdreieck zeichnen, aber kein rechtwinkliges. Wichtige strukturelle Merkmale gehen verloren. Mittelwerte geben der einzelnen Schule keinerlei Anhaltspunkte – die Hälfte der Schulen ist besser, die andere Hälfte schlechter. Der Generalverdacht mangelnder Qualität trifft die Guten wie die Schlechten und keiner weiß, wozu er gehört – ein kopfloses Herumexperimentieren ist die Folge. Gutes wird über Bord geworfen, Schlechtes als Wundermittel propagiert.

Vergleichsuntersuchungen haben einen sinnvollen Zweck: sie geben Hinweise auf den Rang im internationalen Kontext. Ist dieser ungünstig, so ist dieses ein deutliches Signal dafür, zu prüfen, ob das Schulsystem, insbesondere der Unterricht, in seinen Kennzeichen mit den Ergebnissen der internationalen empirischen Unterrichtsforschung übereinstimmt. Forschung hat allein die Möglichkeit, bedingungskontrollierte Studien mit eindeutigen kausalen Schlussfolgerungen durchzuführen. Wir hätten, so die Bildungsministerin in einem Interview (FAZ, 15.7.2003), uns in den letzten dreißig Jahren den Luxus eines Verzichts auf die empirische Bildungsforschung geleistet. Nicht verzichtet – sondern aus ideologischen Gründen nicht zur Kenntnis genommen. Weil sich Politik derjenigen als Berater/-innen bedient hat, die davon keine Ahnung hatten.

Die ZEIT schrieb am 20. September 1974: „Die deutschen Schüler auf dem letzten Platz. Im Internationalen Vergleich schneidet das Bildungswesen der Bundesrepublik miserabel ab.“ Seither werden immer weiter die falschen Schlussfolgerungen gezogen.

Mehr zum Thema Bildungspolitik auf Seite 35 (Landesmusikrat NRW

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