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Von der Utopie zur Knechtschaft: „Lénine, Staline et la musique“ – eine dokumentarische Ausstellung in Paris

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Tief sind die Gräben und die Gräber der Vergangenheit: Die Musik- und Theatergeschichte in den ersten Jahrzehnten der Sowjetunion durchmisst einen großen Bogen von blühenden zu weithin versteppten Landschaften, von utopischen Konzepten für die Ton- und Theaterkünste einer sich befreienden Menschheit zu einem gleichgeschalteten und gegängelten Betrieb. In den Jahren der konsolidierten Diktatur mischte sich Josef Stalin auch eigenhändig in die Belange der Komponisten und Musiker ein.

Kuratiert vom Musikwissenschaftler Pascal Huynh wurde in den letzten Monaten im Musée de la musique der Cité de la musique (Pariser, La Villette) eine Ausstellung entwickelt, die noch einmal die Hoffnungen in den Jahren des Aufbruchs in den Jahren des ersten Weltkriegs beschwört, den neuen Tönen für die „neuen Menschen“ in den 1920er-Jahren nachlauscht, dann die Normierung des „sozialistischen Realismus“ auch bezüglich der Musik, die Indienstnahme des Musik- und Theatersektors durch die Partei- und Staatsführung der UdSSR umfassend dokumentiert.

Wie die gesamte Gesellschaft und deren „Überbau“, so haben die russischen Revolutionen 1917 auch den Musikbetrieb des Landes in den Grundfesten erschüttert. Die „Umwälzung“ hatte sich in den Jahren zuvor in neuen Tönen, Formen und künstlerischen Haltungen angekündigt – mit dem mystisch-hybriden Komponisten Alexander Skrjabin, bei Malern wie Kasimir Malevitsch, Marc Chagall oder Wladimir Tatlin. Dessen expressionistisch-futuristischen Dekorations-Entwürfe stehen am Anfang der großen und medial aufwendig konzipierten Pariser Ausstellung.

Besonders imposant: ein Wald-Vorhang für den IV. Akt von Michail Glinkas Zaren-Oper „Iwan Sussanin“. In ebenso diskretem Licht präsentiert sich die Zarenkrone, die Fedor Schaljapin damals auf der Bühne trug. Gegenüber prangt der große Lenin in Essig und Öl, lehrt in emphatischer Redner-Geste die Völker. Dazwischen steht der abstrakt-hölzerne Musiker, den Ivan Kliun 1916 montierte. Zwei vergilbte Notenblätter vom ersten „Musik-Kommissar“ der UdSSR, Arthur Lourié, erinnern an den Geist des Aufbruchs. Das meiste, was in der einen oder anderen Form zu sehen ist, kann auch hörend nachvollzogen werden – z.B. der pianistischer Impetus aus Dmitri Kabaleweskis besten Jahren.

Das Commissariat der Pariser Ausstellung „Lénine, Staline et la musique“ hat auf die mediale Präsentation des dicht gedrängten und gehängten Materials größte Aufmerksamkeit verwandt. Allerdings sind die Beleuchtungsverhältnisse nicht angetan, die Legenden gut lesbar zu machen. Immer wieder aber laden größere Ausschnitte musikalischer Werke zum Verweilen ein oder erlauben Video-Präsentationen Einblick in die Geschichte des revolutionär gemünzten Theaters in Leningrad und Moskau. Entstanden ist ein ansprechender Überblick über ein gewaltiges Pensum der Musikgeschichte, gewürzt mit Ausstellungsstücken und Tondokumenten, die in dieser Ausführlichkeit wohl noch an keinem anderen Ort versammelt und zugänglich gemacht wurden.

Gut vierzig Kapitel begleiten den Weg von den utopischen Kunst-Entwürfen und den auch international aufsehenerregenden avantgardistischen Modellen in der jungen Sowjetunion zur Rivalität zwischen dem Verband für zeitgenössische Musik und der Vereinigung der proletarischen, d.h. auf Prolet-Kult orientierten Musiker, die bereits in den 20er +ahren ausgehebelt und marginalisiert wurden. Da darf die Erinnerung an die majestätische Erscheinung Schaljapins, der mit Fliege, Pelzmantel und Mops einen Jahrmarkt besucht, nicht fehlen. Ebensowenig die Würdigung der Maschinenmusik, der Pionierarbeit von Nikolai Roslawez oder Alexander Mossolow.

Die Phase des bunten und grellen künstlerischen Pluralismus in der Sowjetunion dauerte nicht lange. In den 30ern setzte durch staatliche Lenkung, Zensur und Verbote eine zweite Umwertung der Werte ein, mit der das Musikschaffen den Vorgaben der Parteiführung von Josef Stalin unterworfen und zunehmend staatlich gegängelt wurde. Mit dieser zweiten „Umwälzung“ geht die Pariser Ausstellung pfleglich um. Unverkennbar bleibt die Sympathie mit dem Land, mit dem Frankreich im ersten und zweiten Weltkrieg alliiert war. Die Pariser Ausstellung gibt der Regierung Stalins einen satten Bonus, die den „Sozialistischen Realismus“ auch den Musikschaffenden verordnete. Hinweise auf die Verfolgung und Vernichtung von Musik und Musikern gibt es nur ganz Rande Thema – kurz vorm Schluss und fast wie eine lästige Pflichtübung vor der Würdigung der sowjetischen Musik im Kalten Krieg.

Als Ergänzung zu der vielen Musik aus den historischen Konserven spielte Olga Anryschenko – live – zur Vernissage selten zu hörende Klavier-Piècen von den beiden Matadoren der Epoche, Sergei Prokofjew und Dmitri Schostakowitsch, aber auch von den fast vergessenen Meistern Lurié und Roslawez sowie dem „Eis und Stahl“-Komponisten Deschewow.

Ausstellung bis 16.1.2011; Öffnungszeiten: Di bis Sa., 12-18.00 Uhr

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