So frenetisch der Jubel am Ende, so ungläubig das anfängliche Staunen. Ironisch hochgezogene Augenbrauen im Premierenpublikum. Keine Bühne, kein Graben. Zwei Zuschauerpodeste, die aneinanderstoßen. Sonst nichts. Unsichtbarer Gott, unsichtbares Orchester. Und dann hebt es doch an – das Spiel von Wortpathos und Bildersehnsucht, von sprödem Geist und verführerischem Gold, von Tanz um den Popanz und dessen Kritik daran. Die Wände verschwinden, die Tribühnen bewegen sich, eine Theateroffenbarung rollt ab
Aus dem Nichts kommt die Musik. Ein Scheinwerfer findet den polierten Schädel von Dael Duesing. Der gibt einen wenig repräsentationstauglichen Mose, ganz der Typ, der bereit ist, dem, wie Schönberg einmal schrieb, zeitgeistigen „Unterhaltungsdelirium“ die Stirn zu bieten.
Die Kraft dafür kommt aus dem Dornbusch. Programmgemäß muss er zischeln, nur, dass er solches eben vor, hinter, neben uns tut. Nicht allein Mose, noch die in unauffälliges Alltagsgrau gekleideten Choristen hat Decker (so einfach geht Theater) in die Reihen platziert. Die Emanzipation des Chores aus der Zwangsjacke der Formation. Eine mutige, keineswegs risikolose Entscheidung, sind die Stimmen doch nun ohne direkte Führung. Schlag und Zeichen von Michael Boder am Pult der Bochumer Symphoniker gibt es einzig per Monitorzuspielung. Und doch. Alles sitzt wie angegossen. Das Sängerische, dies vor allem bestätigt ein fulminanter zweiter Akt, wird zum Bestandteil des Darstellerisch-Dramatischen. Bloß singen, war gestern. Sensationell, wie das von Rupert Huber einstudierte ChorWerk Ruhr von Anfang an die alten Häute gediegenen Vortragsrituals abstreift, wie es bereit ist für eine Tour de Force, die jedem und jeder dieses (semiprofessionellen) Chores buchstäblich alles abverlangt.
Zumal, wenn Decker auf den Knopf drückt, um mit Hilfe der seit Zimmermanns „Soldaten“ unter Jürgen Flimm eingeführten Triennale-Technik Volk und ChorWerk Ruhr den dringend benötigten Raum zu schafften. Wände gehen auf, Podeste weichen zurück wie die Wasser im Roten Meer. Triumph der Technik. Zum fahrenden Publikum, diesem Markenzeichen der Ruhrtriennale, hat Willy Decker nun auch das fahrende Orchester erfunden. Zur Eröffnung der großen Tanz- und Opfer-Szene im zweiten Akt darf es im Schneckentempo von links nach rechts gleiten während in umgekehrter Richtung der Popanz des Kalbs durch die Musikerreihen getragen wird.
Ein wunderbares Bild, das natürlich als eines der Verehrung gemeint ist für das Herz dieser Oper. Doch es steckt eine Paradoxie darin. Um des grandiosen Moments des majestätischen Symphoniker-Einzugs muss das Orchester aus der Kulisse kommen, in dieselbe verschwinden. Schönbergs genial-sinnliche Instrumentation, die das Göttliche wie die Entfernung davon als Klang ausdrückt, erscheint blass, die Musik konturenarm. Über weite Strecken steht ein ebenso unaufdringlich wie präzise dirigierender Michael Boder einem Fernorchester vor. Die Dornbuschszene muss ob des Regie-Gedankens sogar bei geschlossener Wand gespielt werden. Und das unheimliche orchestrale An- und Abschwellen nach den verzweifelten Schlußworten des Mose verliert sich in den Tiefen der Jahrhunderthalle.
Es ist dies der Wermutstropfen in einer Inszenierung, der Ruhrtriennale-Intendant Willy Decker einen faszinierenden, die Details achtenden Spannungsbogen eingeschrieben hat. Dabei wird nichts aktualisiert, politisiert, kostümiert. Noch die Konkretion der Bilder wahrt die Mitte zwischen konstruktiver Strenge und sinnlichem Scheinen. Sei es, dass Deckers bewährter Bühnenbilder Wolfgang Gussmann die unter der Fron stehenden Israeliten in einen sich absenkenden Gazekäfig zwingt, dessen Seiten als Projektionsflächen für Arons Schlangen-, Aussatz- und Blutzauber taugen. Sei es, dass Mose, zurückgekehrt vom Umgang über dem Sinai-Schnürboden, die Tafeln der Weisung als überdimensionierte Lesetapete hinter sich herschleift. Letztere wird er stehenden Fußes zerreißen, wenn der Eigenbrötler von seinem Bruder Aron („Auch deine Worte sind Bilder!“) die Leviten gelesen bekommt, jenem leidenschaftlichem Menschenfreund, dem Andreas Conrad seine höhensichere, in ihrer Strahlkraft nie nachlassende Tenorstimme leiht.
Am Ende sind sie beide, Mose und das widerspenstige Volk, in einer Art posttraumatischem Ernüchterungzustand vereint. In Katerstimmung aus dem Gedankendelirium erwacht der Eine, durchgeschüttelt vom Rausch der Sinne die Anderen. Nichts geht mehr zusammen. Was bleibt, ist eine an der Werkhöhe einer Jahrhundertoper maßnehmende Jahrhunderthallen-Inszenierung, in der alles belebt wirkt, geschmeidig ist. Die Elemente nicht an den Kanten zugekleistert, vielmehr subkutan verwoben. Etwa, wenn die Regie für die blutige Raserei im zweiten Akt, in der sich ja jede symmetrische Choreografie verbietet, eine Minitruppe professioneller Tänzerinnen und Tänzer unter die Choristen schmuggelt. Und doch macht auch diese Schützenhilfe kaum plausibel, wie es gelungen ist, die ausnahmslos jungen Choristen ohne gravierende musikalische Abstriche in eine Orgie zu treiben, in der die nackten Körper hin- und herwogen wie Schilfrohr im Wind.
Nicht allein die Fülle der von Decker nie voyeuristisch choreografierten Gruppenbilder, es ist ihre explosionsartige Dynamik, die Staunen macht. Denn schnell legen die Chorwerker das Gesittete von brav vor sich hin rumorenden Pharao-Sklaven ab, stürmen wie Furien los, rasen die Treppen hinauf und hinunter, bilden Kreise, Schlangen, amorphe Haufen, um doch in keinem Moment ihre Mission zu vergessen, Stimme zu sein. Ohne die exzellenten Leistungen der Solisten Duesing und Conrad zu schmälern, ohne zu unterschlagen, wie unbeirrt die Bochumer Symphoniker der verordneten Marschroute kontrollierter Präsenz folgen – der Sensationserfolg dieser Inszenierung ruht auf den Schultern dieses Chores.