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Gerd Zacher. Foto: Archiv
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Zum Mitlesen: der Organist Gerd Zacher begleitet Luther-Choräle durch alle Strophen

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Eigentlich war es ihm „peinlich“, sagt Gerd Zacher. Wenn spontaner Applaus für seine Choralbegleitung kam oder, noch so eine Anekdote aus einem langen Organistenleben, wenn die Gemeinde überraschenderweise stumm blieb, um hinterher zu bekennen: „Wir haben lieber zugehört als mitgesungen!“

Sicher, schmeichelhaft für den Künstler im orgelnden Choralbegleiter ist das schon, aber so ganz recht konnte es diesem auch wieder nicht sein. Immerhin: Wozu sind Choräle denn sonst da als dass man sie singt – in Gemeinschaft, als Gemeinde, laut und deutlich? Und, Anschlussfrage, wozu sind Organisten da? Eben. Siehe oben. Andererseits, wozu ist die Konvention da, wenn sie nicht in Frage gestellt wird? Wir nähern uns dem Ansatz, den Gerd Zacher verfolgt hat, indem er dergestalt auf seine alten Tage noch einmal den Avantgardisten in sich hervorgekehrt, aus der Erfahrung der schweigenden Gemeinde eine Tugend gemacht und sie stante pede in die kirchenmusikalische Konzertpraxis eingeführt hat.

Stillarbeit

So geschehen unlängst an seinem alten Arbeitsplatz: Evangelische Kirchgemeinde Essen-Rellinghausen. Die Situation zunächst wie gehabt: Zacher oben auf der Orgelbank – die Gemeinde unten. In freudig-gespannter Erwartung. Neu war nur, dass gleich an der Kirchenschwelle zum Programmblatt ein Gesangbuch ausgehändigt wurde. Also doch mitsingen? Mitnichten. Umgekehrt wurde ein Schuh daraus wie dann auch auf der Rückseite des Ablaufplans zweifelsfrei zu lesen stand: „Was mir damals eher etwas peinlich vorkam, wurde zur Anregung für das heutige Programm. Denn nun bitte ich die Zuhörer tatsächlich: nicht mitzusingen!“ Was freilich nicht bedeutete, dass besagter Zuhörer nun ganz ohne Aufgabe war. Stattdessen war er gehalten (wir sind in einem protestantischen Hallraum) „mitzulesen, wie die Texte sich bei unterschiedlichen Strophen und Versen auf die Musik auswirken“. Stillarbeit also.

Eine geschlagene Stunde später war man nicht nur erfreut, eine höchst naheliegende, aber doch so seltene Variante des traditionellen Orgelkonzerts miterlebt zu haben. Und eine in jeder Hinsicht bildsame Erfahrung zugleich. Gleich beim ersten Luther-Choral „Vom Himmel hoch“ stolperte man über den stotternden Gang. Hatte der Meister insgeheim Platz gemacht für einen Schüler? – Nein, gewiss nicht. Hilfreich auch hier der Blick ins Programm: „Ein kinder lied auf die Weihnacht Christi“. Also muss doch auch so georgelt werden wie ein „kind“! So ging das weiter. Eine Überraschung folgte der anderen. Wie als wenn die liegen gebliebenen Weihnachtsgeschenke im Schnelldurchgang ausgepackt werden. Stille Ohs und Ahs durch alle fünfzehn Strophen. Überhaupt Luther. Neben zwei Paul Gerhardt-Liedern („Auf, auf mein Herz mit Freuden“ und „Zeuch ein zu deinen Toren“) ist es der sangesfreudige, wortgewaltige Reformator, dessen Texte Zacher unverkennbar ins Herz geschlossen hat. So war nach sieben Stropen „Christ lag in Todesbanden“, nach neun Strophen „Vater unser im Himmelreich“ und nach besagten fünfzehn „Vom Himmel hoch“-Strophen der Schleier gelüftet.

Der Blick des choralbegleitenden Organisten Gerd Zacher auf die Welt, in der sich „Windelein“ auf „Kindelein so zart“ reimen, wo auf „dürrem Gras ein Rind und Esel aß“, wo es vom „rein sanft Bettelein“, eingeschlossen im „Herzens Schrein“, heißt: „nimmer vergessen dein“ – dieser Gerd Zacher-Blick auf eine sich in Musik ausdrückende versunkene ganz ins gläubige Bewusstsein abgesunkene Welt, ist ein liebevoller. Zu lernen war: Avantgardismus, radikale Moderne und evangelisches Christentum, zumindest dort, wo es musikalische Gestalt angenommen hat, sind keine Gegensätze. Waren es wohl noch nie. Erstaunlich vor allem die völlige Abwesenheit (nicht von Scherz und tiefer Bedeutung, wohl aber) von Ironie. Nur das „Himmelreich“ und „Gott Vater“ trübt Zacher ziemlich kontinuierlich mit schmutzigen Harmonien ein. Kein Glaube ohne Zweifel.

Nachahmer erbeten

So spulte sie sich ab – die in guter alter kreativer Organistenpraxis ausgedeutete Choralpoeterey. Und da man von dem Vielen so wenig begriff, begriff man am Ende auch, dass uns mit dieser hochintelligenten orgelnden Textausdeutung ohne Worte auch die (kirchen)musikalische Bildung abhanden gekommen ist, zu verstehen, was da so kunstvoll „gesagt“ wird. Gemessen an den mitten in der „Lutherdekade“ landauf landab gefeierten „500 Jahre evangelischer Gemeindegesang“ stimmt es schon nachdenklich (oder sollen wir mit Zacher sagen „peinlich“?), wie wenig wir noch parat haben. Da sollte doch nachgebessert werden. Bliebe denn auch zu hoffen, dass er Nachahmer findet, dieser alte-neue Typus des sich an den Text bindenden Orgelspiels, von Gerd Zacher, diesem Düsentrieb der Kirchenorgel, zum Literaturspiel, zur freien Improvisation hinzugefügt. Schließlich möchte man denselben Luther-Parcours doch gern auch einmal aus anderer Perspektive hören. Und dass es da noch genügend zu tun gibt, steht ebenfalls außer Frage.
Nehmen wir einmal den Beginn von Strophe 11 im barocken Pfingslied „Zeuch ein zu deinen Toren“: „Beschirm die Obrigkeiten“ heißt es da. – ? – Was macht/sagt/spielt Zacher? Drüber weg. Kein Kommentar. Nein, dachten wir, da muss man doch was machen! Wo doch auch das Weib schon längst nicht mehr schweiget in der Gemeinde …

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