Die Situation des Georgischen Kammerorchesters in Ingolstadt ist dramatisch und entbehrt nicht einer unfreiwilligen Theatralik mit dekadentem Unterton. Da wurde mit Lavard Skou Larsen ein neuer Chefdirigent engagiert, der dem Klangkörper nach vielen Jahren eher regionaler Existenz endlich zur Entfaltung seines Potentials verhelfen sollte. Doch das Orchester verweigert sich in Teilen.
Lavard Skou Larsen ist ein Mann, der über das dafür nötige Können und Wollen verfügt, wie sich an der fantastischen Entwicklung der Deutschen Kammerakademie in Neuss in zehnjähriger Arbeit mehr als deutlich nachweisen lässt – man muss nur die zuletzt bei cpo erschienenen CDs mit der Ersteinspielung des hochkomplexen Werks für Streichorchester von Heinrich Kaminski oder den beiden Klavierkonzerten und der Hamlet-Schauspielmusik von Dmitri Schostakowitsch hören. Kein Zweifel, Skou Larsen, Gründer und Leiter der vortrefflichen Salzburger Kammersolisten, exzellenter Geiger und einer der fähigsten Schüler von Sándor Végh, gehört zu den interessantesten, seriösesten und musikalisch natürlichsten und strukturbewusstesten Dirigenten seiner Generation.
Sein erklärtes Ziel mit der Übernahme des Georgischen Kammerorchesters war es denn auch, dem Ensemble zu einem unverwechselbaren Profil zu verhelfen, das in unterschiedlichsten Stilarten gleichermaßen zuhause ist, auf allen Positionen ausgeglichen auf hohem Level, zumal in Zeiten, wo fast kein Klangkörper mehr sicher davor sein kann, von den Verantwortungsträgern der öffentlichen Hand wegdiskutiert, fusioniert, abgewickelt zu werden. Langfristig ist Spitzenklasse zumindest ein wesentliches Argument, die Existenz abzusichern. Doch vertragen sich die damit verbundenen Manöver auch mit den Gewohnheiten und Eitelkeiten einzelner Orchestermusiker? Zum Teil nicht. Skou Larsen führte ein Rotationsprinzip innerhalb der Streichergruppen ein, und darüber freuten sich natürlich vor allem die, die endlich mal von hinten nach vorne kamen. Andere nahmen dies teilweise persönlich... Die Situation eskalierte, rebellierende Orchestermitglieder schlossen sich zusammen und wollten andere überreden, gegen den neuen Chef zu votieren. Einem, der sich weigerte, wurde auf die Nase geschlagen, er musste sich in ärztliche Behandlung begeben.
Seit Skou Larsen da ist, hat sich das Niveau des Orchesters merklich gehoben. Das Publikum registriert dies aufmerksam und dankt es mit zahlreichem Besuch, konzentriertem Zuhören und Ovationen. Das Orchester ist gespalten, die einen lieben den neuen Leiter und seine hohen Anforderungen, die anderen hängen an ihrer liebgewordenen Bequemlichkeit, doch den Verantwortlichen von der Stadt scheint die Situation zu anstrengend geworden zu sein, und so geht die Rede um, Skou Larsens Vertrag solle über 2013 hinaus nicht verlängert werden. Dass dies ein grober Fehler wäre, ist in Fachkreisen unzweifelhaft. Skou Larsen fallen zu lassen käme quasi einem Garantieschein für dauerhaftes Mittelmaß gleich – welcher wirklich ambitionierte Kollege würde sich schon darauf einlassen wollen, die gleiche Sisyphosarbeit gleich noch einmal verrichten zu wollen?
Ein Konzert mit dem Raschèr Saxophonquartett zeigte schlagend auf, wohin die Reise gehen kann, sollte doch noch das Wunder geschehen dürfen. Zu Beginn die „Stille Musik“ in drei Sätzen vom großen Ukrainer Valentin Silvestrov, ein Meisterwerk der subtilsten Verflechtung nostalgisch tonaler Elemente, verhalten tänzerischer Grazie am Rande des Verklingens, offen verträumter Strukturen. Die Musiker folgen Skou Larsens klarer Zeichengebung in diesem Labyrinth Takt für Takt wechselnder Ritardandi und Accelerandi, das dynamisch kaum einmal bis ins Mezzoforte aufbegehrt. Ein großes kammermusikalisches Ereignis, das den Spielern immense Verfeinerung, wohlklingende Zurückhaltung, große rhythmische Wachheit und kontinuierliches Aufeinander-Hören abverlangt.
Danach von Giya Kancheli „Ilori“ für Saxophonquartett und Kammerorchester mit Klavier, uraufgeführt 2011 in Basel – eine orchestrale Adaption des ursprünglich für Saxophonquartett und Chor geschriebenen einsätzigen Werks, arrangiert von Kanchelis jüngerem georgischen Landsmann Nika Memanishvili. In die Stille hinein explodieren archaische Kraftausbrüche, zuerst fragmentarisch, dann expandierter. Die Musik entfaltet sich wie ein hochdramatischer imaginärer Film und wird mit fesselnder Charakterisierungskunst und identifikatorischer Emphase dargeboten, doch auch der Dirigent verliert sich nie in der Ekstase des Ausdrucks. Das Team Kancheli/Memanishvili erweist sich als meisterhaft in der Amalgamierung der kontrastierenden Klangfarben von Solisten und Orchester, und das sensitive Spiel der Pianistin setzt besondere Glanzlichter in diesem berückenden Kontinuum von gleitenden Übergängen und schroffen Gegensätzen, in einer Musik, die Populäres und Anspruchsvolles in kompakter Weise zu verschmelzen versteht.
Nach der Pause dann eine wahrhaft populäre Musik: „Passages“ von Ravi Shankar und Philip Glass, ein Werk, das 1990 auf Platte sensationellen Erfolg einheimste und als grandiose Fusion indischer Melodik mit minimalistischen Patterns in die Geschichte einging. Die drei Sätze daraus werden mit einer musikantischen Verve, Feinsinn und absoluter Ernsthaftigkeit hochpräzise und mit Swing und Groove dargeboten, dass der vielleicht zwischendurch auftauchende Gedanke an Oberflächlichkeit geradezu blasphemisch erscheint.
Zum Schluss dann doch noch ein echter Klassiker: Joseph Haydns 64. Symphonie „Tempora mutantur“, ein konzises Meisterwerk mit einem in seiner unvorhersehbaren Kargheit und nüchtern expressiven Introversion höchst bemerkenswerten langsamen Satz. Hier sind die momentanen Grenzen des Orchesters noch deutlich festzustellen, auch kämpft der Dirigent mit nachlassender Konzentration seiner Mitstreiter. Offenkundige Schwächen in den Hörnern, ein kurzer Blackout der Oboe, vor den Streichern, zumal einigen der tiefen Streicher, liegt noch viel Arbeit – sollte sie denn geleistet werden wollen –, um eine Homogenität und geschlossene Klasse von Tongebung und Phrasierung zu erreichen, wie sie eines solchen Ensembles einzig würdig wären.
Anstatt sich zu verweigern und ins Abseits zu protestieren, könnte man sich ja ein Vorbild an dem nehmen, was Lavard Skou Larsen in Neuss erreicht hat. Ob es dazu kommen kann, ob man künftig in einer anderen Liga spielen wird, die sich bereits unüberhörbar ankündigt, liegt nun vor allem bei den Dienstherren in der Donaustadt.