In Berlin liegt so viel Musik in der Luft, dass es stickig wird. Auf Werben der Politik siedeln sich immer mehr Musikunternehmen an, gleichzeitig werden Bürger aus ihren Kiezen verdrängt. Zur vierten Berlin Music Week ist die Stimmung gereizt.
Berlin - Musikwoche ist in Berlin eigentlich immer. Jeden Tag gibt es Konzerte und Clubnächte, zu denen Menschen aus aller Welt anreisen. Doch die Taktfrequenz geht noch weiter nach oben: An diesem Mittwoch beginnt die vierte Berlin Music Week (4. bis 8. September) mit Hunderten Konzerten, Partys und Fachkonferenzen. Die Hauptstadt im Musikrausch. Oder droht der «Kulturinfarkt»?
Ja, die «Schlagzahl» werde noch einmal erhöht, kündigen die Veranstalter der Berlin Music Week an. Sie rechnen mit Zehntausenden Musikfans, die die unzähligen «Events» im Szenebezirk Friedrichshain-Kreuzberg besuchen sollen. Für den Konferenzteil der Musikwoche hätten sich zudem Hunderte Fachbesucher angemeldet, sagt Projektleiter Björn Döring. Sie alle strömten nach Berlin, in diese «kreative, verdammt großartige Stadt».
Spielverderber sind da Leute wie Steffen Hack. Seine Türsteher schicken jeden Abend 300 bis 400 Musikfans nach Hause. Hack ist Chef vom Watergate, einem der Top-Clubs in der Hauptstadt. Wenn das Watergate offen hat, erkennt man das an der riesigen Schlange davor. Allein aus Platzgründen kann Hack nur einen Teil der Leute hineinlassen.
Die Abgewiesenen ziehen dann zum nächsten Club in der Hoffnung, dort hineingelassen zu werden. Viele sind betrunken und grölen laut herum. Das nervt die Anwohner, denn die meisten Clubs liegen in Wohngebieten. Zudem steigen die Mieten steil an. Die Musikunternehmer, von denen sich auf Werben der Politik mehr und mehr ansiedeln, können sie bezahlen. Aber die normalen Anwohner werden aus ihren Kiezen verdrängt. Das soziale Klima ist gereizt.
Kommerzspektakel und «Disneyland» nennt Watergate-Chef Hack die Musikwoche. Die Menschen kämen nach Berlin, um an diesem Abenteuer teilzunehmen, das nach der Wende begann. Junge, kreative Leute strömten nach Ost-Berlin, besetzten Häuser und Brachen und feierten irrwitzige Partys. Techno eroberte von Berlin aus die Welt, im Ecstasy-Rausch lagen sich Ost und West in den Armen und verbrüderten sich.
Diese Zeiten sind lange vorbei. Es gibt immer noch gute, alternative Clubs, etwa das About Blank, das Sisyphos und natürlich das Berghain. Aber die machen alle nicht mit bei der Music Week. Auch nicht das Watergate. Stattdessen werden den Besuchern Lokalitäten als Clubs verkauft, wo sonst antike Ausstellungen und Flohmärkte stattfinden, etwa in der Arena Berlin. Weitere «Clubadressen» laut Programmheft: der Flughafen Tempelhof und die Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Telekom AG.
Für die Wirtschaft boomt die Berliner Musikszene als Einnahmefaktor. 2013 werde mit einem Gesamtumsatz von mehr als 600 Millionen Euro gerechnet, sagt Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU). 12 000 Menschen seien in der Branche dauerhaft beschäftigt. «Die Musikwirtschaft und die Musikszene rocken die Hauptstadt», betont Yzer, eine ehemalige Pharmalobbyistin. Mit 700 000 Euro unterstützt der Senat in diesem Jahr die Berlin Music Week.
Gleichzeitig hat der Senat nicht genug Geld, um die musische Bildung der Bevölkerung zu gewährleisten. Erst am Sonntag demonstrierten Berlins Musikschullehrer wieder für eine angemessene Entlohnung und feste Anstellungsverträge.
Die Gewerkschaft Verdi beklagt, dass 94 Prozent der Berliner Musikschullehrer nur Honorarkräfte und nicht sozial abgesichert seien. Viele Pädagogen seien «armutsgefährdet». Auch an den allgemeinbildenden Schulen ist Musik ein sogenanntes Mangelfach.
Vielleicht sollten die Lehrer ihr Glück im Musikbusiness versuchen und eine Band gründen. Die Berlin Music Week versteht sich nämlich auch als Plattform für Nachwuchskünstler: 80 Newcomer-Acts stünden auf der Bühne. Berlins Pop-Himmel soll weiter wachsen.
Haiko Prengel