I. PISA: Der Beginn einer neuen Bildungspolitik?
So viel Bildungsdiskussion wie heute gab es schon lange nicht mehr. Zu verdanken ist dies nicht so sehr dem Forum Bildung, einer großen Initiative von Bund und Ländern, bei der neue Impulse für ein zukunftsfähiges Bildungswesen entwickelt werden sollten und die am 8./9. Januar 2002 mit einem großen Kongress zu einem ersten Abschluss kam. Nein, es sind vielmehr einzelne Ergebnisse aus dem Programme for International Standard Assessment, besser bekannt unter dem Kürzel PISA. Über Monate geisterten Vermutungen über die Ergebnisse deutscher fünfzehnjähriger Schüler/innen bei dieser bislang größten Vergleichsuntersuchung von nationalen Bildungssystemen durch die Lande: Deutschland schneidet sehr schlecht ab. Wer wusste, dass es um Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenzen ging, hätte - zumindest im Hinblick auf Mathematik und Naturwissenschaft - so überrascht nicht sein dürfen. Denn bei der erst wenige Jahre zurückliegenden, sehr ähnlich angelegten "Third International Mathematics and Science Study" (TIMSS) hat Deutschland auch schon unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. So verwundert es also nicht, dass die Kultusministerkonferenz bereits einen Tag nach der Vorstellung von PISA - die zeitgleich in allen beteiligten Staaten stattfand - einen ersten Katalog von Konsequenzen vorlegte mit dem Tenor einer umfassenden Qualitätsverbesserung von Schule: verbindlichere Lernziele, bessere Förderung lernschwacher Schüler, bessere Organisation der Schulen, bessere Ausbildung der Lehrer/innen.
Viele Verbände und andere bildungspolitische Akteure hatten sofort Strategien parat, die sie schon immer forderten und die nun - scheinbar durch PISA - unabdingbar geworden sind: mehr Eliteförderung, mehr Ganztagsschulen, mehr Bildung schon im Kindergarten, mehr Lehrer/innen etc.
Denn Platz 19 bis 25, den Deutschland je nach untersuchtem Bereich in den PISA-Rankings einnimmt, scheint nunmehr das richtige Argument zu sein, endlich Bewegung in die Bildungspolitik bringen zu können. Dass in vielen Fällen der Bezug zu PISA wenig legitim war, da so eindeutig die Ergebnisse zwar zu deuten, die Ursachen aber nicht zu identifizieren sind, war dann auch schon nicht mehr so wichtig.
II. PISA: ein Steckbrief
Vielleicht sind einige präzisere Grundinformationen über die Anlage der Studie, ihre Intention und Ausführung ganz hilfreich. Denn ein genaueres Hinsehen hilft bei der Beurteilung der Frage, welche Rolle PISA im Kontext der kulturellen Bildung spielen kann. Bislang liegen zwei wuchtige Bände vor: die Darstellung der internationalen Gesamtuntersuchung, 322 Seiten, DIN A4: Knowledge and Skills for Life. First Results from PISA 2000. Paris: OECD 2001, und die (erste) deutsche Ergebnisstudie: Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske und Budrich 2001, mit 548 Seiten. Beide Texte sind keine leichte Kost, die statistischen Details - dies vorab - sind häufig nur von denjenigen zu verstehen, die fit in Statistik und empirischer Sozialforschung sind. Verbreitet ist außerdem der im Internet abrufbare Kurzbericht (50 Seiten) des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (www.mpib-berlin.mpg.de/pisa), das auf deutscher Ebene die Untersuchung federführend umsetzt. Dort arbeitet auch Jürgen Baumert, wissenschaftlicher Leiter dieser ersten deutschen Studie, als Direktor.
Einige "technische" Daten sind durch die Presse hinreichend bekannt: 280.000 Schüler/innen in allen beteiligten 32 Ländern, darunter die 28 OECD-Länder (OECD: Organisation for Economic Cooperation and Development; ein Zusammenschluss im wesentlichen der reichen Länder). Zusätzlich haben vier weitere Staaten (Brasilien, Liechtenstein, Lettland und die Russische Föderation) mitgemacht. In Deutschland haben sich über 50.000 Schüler/innen an fast 1500 Schulen aller Schulformen beteiligt. Aus dem deutschen PISA-Bericht entnehme ich den folgenden Steckbrief:
"Was ist OECD/PISA? - Die wichtigsten Merkmale im Überblick
Grundlegendes
* PISA ist eine international standardisierte Leistungsmessung, die von den Teilnehmerstaaten gemeinsam entwickelt wurde und mit 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in ihren Schulen durchgeführt wird.
* Teilnehmer sind 32 Staaten, davon 28 Mitgliedsstaaten der OECD.
* In jedem Land werden zwischen 4.500 und 10.000 Schülerinnen und Schüler getestet.
Inhalt
* PISA erfasst drei Bereiche: Lesekompetenz (Reading Literacy), mathematische Grundbildung (Mathematical Literacy) und naturwissenschaftliche Grundbildung (Scientific Literacy).
* Die Definition der Bereiche deckt nicht nur die Beherrschung des im Curriculum vorgesehenen Lehrstoffs ab, sondern auch wichtige Kenntnisse und Fähigkeiten, die man im Erwachsenenleben benötigt. Die Untersuchung von fächerübergreifenden Kompetenzen ist integraler Bestandteil von PISA.
* Das Hauptaugenmerk liegt auf der Beherrschung von Prozessen, dem Verständnis von Konzepten sowie auf der Fähigkeit, innerhalb eines Bereichs mit unterschiedlichen Situationen umzugehen.
Methoden
* Die Tests bestehen aus einer Mischung von Multiple Choice-Aufgaben und Fragen, für die die Schülerinnen und Schüler eigene Antworten ausarbeiten müssen. Die Items sind in Gruppen zusammengefasst, die sich jeweils auf eine Beschreibung einer realitätsnahen Situation beziehen.
* Insgesamt werden Items für eine Testdauer von sieben Stunden eingesetzt, von denen die Schülerinnen und Schüler jeweils unterschiedliche Kombinationen abarbeiten.
* Die Schülerinnen und Schüler beantworten außerdem einen Schülerfragebogen mit Hintergrundfragen über sie selbst, und die Schulleiter werden gebeten, Fragen über ihre Schule zu beantworten. Die Bearbeitung des Schülerfragebogens nimmt 20 bis 30 Minuten, die des Schulfragebogens etwa 30 Minuten in Anspruch.
Ergebniszyklus
* Die erste Erhebung fand im Jahr 2000 statt. Danach erfolgen die Erhebungen in einem Dreijahreszyklus.
* In jedem Zyklus wird ein "Hauptbereich" gründlicher getestet, dem dann zwei Drittel der Testzeit zugeteilt werden; in den beiden anderen Bereichen werden jeweils nur zusammenfassende Leistungsprofile erfasst. Die Hauptbereiche sind: Lesekompetenz im Jahr 2000, mathematische Grundbildung im Jahr 2003 und naturwissenschaftliche Grundbildung im Jahr 2006.
Ergebnisse
* Ein Profil der Kenntnisse und Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern gegen Ende der Pflichtschulzeit.
* Kontextbezogene Indikatoren, mit denen ein Zusammenhang zwischen den Ergebnissen und den Merkmalen von Jugendlichen und Schulen hergestellt wird.
* Trennindikatoren, die zeigen, wie sich die Ergebnisse im Zeitverlauf ändern.
Offenheit für nationale Optionen
* Zusätzlich zu den 15-Jährigen kann auch eine Jahrgangsstufe untersucht werden (in Deutschland wurde die 9. Jahrgangsstufe gewählt).
* Das Programm kann durch nationale Komponenten erweitert werden " (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 17).
Deutschland hat zudem die Gelegenheit zu einer detaillierten Studie genutzt, die die Schulsysteme der einzelnen Bundesländer vergleichen wird. Diese Studie wird im Frühjahr veröffentlicht - und es liegt auf der Hand, dass sie im Wahlkampfjahr 2002 eine große Rolle spielen wird.
Eine erste wichtige Erkenntnis liefern bereits die Inhaltsverzeichnisse der beiden Berichtbände. Denn dort gibt es nicht nur Kapitel zu den - auch im offiziellen PISA-Steckbrief besonders betonten - drei Kompetenzfeldern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft: Die gesamte zweite Hälfte des Buches nehmen Ergebnispräsentationen zu weiteren Fragestellungen ein:
* Geschlechterunterschiede
* Selbstreguliertes Lernen
* Kooperation und Kommunikation
* Familiäre Lebensverhältnisse
* Lebens- und Lernbedingungen von Jugendlichen.
Und es werden zusätzlich zu dem Test der Schüler/innen umfassend weitere Instrumente benutzt:
* Fragebögen an Lehrer, Schüler, Eltern und Schulleiter
* Selbstbeobachtungsverfahren bei Schülern.
Offenbar reicht PISA weiter - sowohl von den Methoden, als auch von den Zielen her -, als es manche Presseberichte vermuten lassen.
Da die wichtigsten Ergebnisse inzwischen hinreichend bekannt sind und durch eine Methodenkritik an den Untersuchungsverfahren kaum in Frage zu stellen sein werden ("Spitzenniveau großflächiger Leistungsuntersuchungen", so der renommierte Pädagoge und Schulforscher Hans-Günter Rolff), will ich im folgenden die theoretischen Grundlagen kurz vorstellen, da sie für unsere eigene Bildungsdiskussion (siehe Heft III/01 der Kulturpolitischen Mitteilungen) von großer Bedeutung sind.
III. Bildung und/oder "Literacy"?
Das zu Grunde liegende Bildungskonzept von PISA ("Literacy") stammt aus dem angelsächsischen Bereich und meint wörtlich Lese- und Schreibfähigkeit. Als bildungstheoretischer Fachbegriff sind jedoch anspruchsvollere Grundkompetenzen gemeint, die sich - je nach Anwendungsfeld - nicht nur auf Sprache, sondern auch auf Mathematik, Naturwissenschaften oder Sozialwissenschaften beziehen können (mathematical, scientific und political literacy) und Basiskompetenzen in den entsprechenden Handlungsfeldern beinhalten. In der Tat: Es gehtum Handlungsfelder. Das Bildungskonzept ist funktional: Es geht um Bildung für das Leben, um "life skills". Die deutsche Studie stellt ausführlich die Bezüge von "Literacy" zu den Humboldtschen Modi der Welterfahrung her (linguistisch, historisch, mathematisch, gymnastischästhetisch), wobei in PISA explizit eine Beschränkung auf das Kognitive geschieht: Es geht in den drei Kompetenzfeldern um Wissen, um Strategien seines Erwerbs und vor allem um die Fähigkeit, es anzuwenden. Dabei werden in jedem der drei Bereiche sorgsam und auf der Höhe der jeweiligen Fachdiskussion basale Grundideen identifiziert (in der Mathematik etwa "Veränderung und Wachstum" und "Raum und Form"), die in handhabbare Aufgabentypen operationalisiert werden. In jedem der Felder werden dabei jeweilige deutsche curriculare Vorstellungen mit den PISA-Untersuchungsfeldern verglichen. Es werden sogar Einzeltests durchgeführt und Expertenmeinungen eingeholt, die sicherstellen, dass - trotz einer abweichenden curricularen Vorstellung in Deutschland gegenüber den PISA-Tests -trotzdem auch die deutschen Lehrplanziele erfasst werden. Zusätzlich werden für die nationale Ebene die Frage- und Testkriterien um nationale Elemente erweitert.
Übergreifende Grundidee in allen drei Kompetenzfeldern ist das "funktionale Bildungsverständnis" bei einer Konzentration auf einen kognitiven Kompetenzbegriff. Das heißt, es interessiert weniger die Beherrschung eines Kanons (etwa mathematische Kalküle und Lösungsverfahren), sondern die (kreative) Anwendung fachspezifischer Kompetenzen in Situationen des alltäglichen Lebens: So geht es im Bereich der Lesekompetenz etwa nicht nur um literarische Texte, sondern auch um das Verstehen von Tabellen; es geht nicht um Lösungsverfahren von Gleichungen, sondern um das Aufspüren mathematisch behandelbarer Probleme etwa in Baukonstruktionen.
Die Ergebnisse der Tests werden umfassend dargestellt, mögliche Ursachen allerdings nur äußerst behutsam in Erwägung gezogen. Die Eindeutigkeit, die in Medien und Politik in Bezug auf klare bildungspolitische Forderungen vorherrscht (z. B. nur Ganztagsschule, kleinere Klassen, Eliteförderung etc.), findet sich so nicht im deutschen Text. Die bisher vorliegende Studie macht etwa keine Aussage über bestimmte Unterrichtsmethoden, auch wenn in einigen Interviews des wissenschaftlichen Leiters die in Deutschland vorherrschende fragendentwickelnde Methode problematisiert wird.
Auch die Geldfrage wird wenig offensiv gestellt, da sich immer wieder im internationalen Vergleich Gegenbeispiele finden, bei denen Länder mit besseren Ergebnissen niedrigere Bildungsausgaben haben. Insgesamt ist also festzustellen, dass - anders als gelegentlich in Politik und Medien - keine monokausalen Ursachen für das schlechte deutsche Abschneiden behauptet werden.
Eine weitere Qualität der Studie taucht ebenfalls fast nie in der öffentlichen Diskussion auf (vielleicht weil die Ergebnisse wenig sensationell sind). Ich meine die flankierenden Untersuchungen
* zur Geschlechterdifferenz
* zur Selbstregulation des Lernens
* zu sozialen Kompetenzen (Kooperation und Kommunikation)
* zu den Lebens- und Lernbedingungen.
Als einziges Untersuchungsfeld hat hier - im Kontext der Untersuchung der familiären Lebensverhältnisse - die Situation von Schüler/innen mit Migrationshintergrund (zu Recht) eine öffentliche Resonanz gefunden (S. 360 - 407). Hier schlägt ein zentrales Ergebnis der Kompetenzfelduntersuchungen durch: Hebel aller Kompetenzentwicklungen - auch in Mathematik und Naturwissenschaften - ist die Lesekompetenz. Und ein weiteres Resultat: Eine wenig ausgeprägte Lesekompetenz am Anfang der Schulzeit bei Kindern mit Migrationshintergrund - eben weil in der Familie die Herkunftssprache der Eltern gesprochen wird - wird nicht nur nicht mehr kompensiert, sondern festgeschrieben, da das deutsche Schulsystem wie kaum ein anderes schon sehr früh nach Schulformen und -laufbahnen differenziert. Die skandalösesten Ergebnisse, die - zurecht - in vielen Berichten eine Rolle spielen, hängen hiermit zusammen: Das deutsche System spaltet wie kein anderes, ist wenig auf Förderung ausgelegt, praktiziert - wie kaum ein anderes - wenig wirksame Strategien der Auslese (Sitzen bleiben), differenziert zu früh, erzielt jedoch - auch in der Spitzengruppe - kaum nennenswerte Leistungen. Dabei ist für eine schulische Selektion die soziale Herkunft hoch bedeutsam.
Noch ein Wort zu den Methoden:
* Die sozialökonomische Dimension wird nicht nur über das Einkommen der Eltern, sondern unter Berücksichtigung des sozialen und kulturellen Kapitals (Bourdieu, Coleman) bestimmt.
* Unter den Kontextbedingungen der Schüler/innen wird die Rolle der Peers und des Freizeitverhaltens mit berücksichtigt.
Der Hinweis, dass etwa ein gutes Schulklima (S. 494), die Bewertung der Unterrichtsqualität durch die Schüler/innen (S. 498) oder ein informationsorientiertes Fernsehverhalten (S. 489) nicht als Stimulanz für höhere Fachleistungen festgestellt werden kann, führt mich zu einigen Kommentaren zur Tragweite der Studie.
IV. Einige Kommentare aus der Sicht der kulturellen Bildungsarbeit
Ich versuche, der Tugend der PISA-Berichte zu entsprechen und solche Schlussfolgerungen zu vermeiden, die sich m. E. nicht aus dieser Studie folgern lassen.
1. Angesichts der bislang durchgängig bestätigten Qualität und Sorgsamkeit der Studie wird man die Ergebnisse nicht unter Berufung auf Methodenfehler wegdiskutieren können. Daher ist umso genauer zu betrachten, was denn PISA eigentlich misst. Die folgende Feststellung klingt zunächst ein wenig banal und überflüssig:
2. PISA macht nur Aussagen darüber, was mit den ausführlich begründeten Erhebungsmethoden erfasst worden ist. Um zu verdeutlichen, was hiermit gemeint ist, einige Beispiele: PISA sagt nichts darüber aus, ob deutsche Schüler dümmer oder intelligenter sind als andere. PISA sagt wenig über Schulformen und nichts über Unterrichtsmethoden aus. PISA geht von einem bestimmten Verständnis von Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften aus. Dies mag dabei in der Fachwelt heute jeweils ein anerkanntes Verständnis sein oder sogar dem jeweiligen Mainstream entsprechen, doch sind die PISA-Ergebnisse jeweils in Bezug auf diese getroffene curriculums- und wissenschaftstheoretische Entscheidung zu sehen. PISA sagt nichts über den Bildungsstand insgesamt der deutschen Schüler/innen aus. Das letztere ist für uns besonders wichtig:
3. PISA engt sein Interesse auf kognitive Kompetenzen ein. "Wissen" ist der Zentralbegriff, das verwendete Wissenskonzept wird gut begründet, ist auf der Höhe der Zeit und geht etwa weit über "Information" oder bloß statische Wissensanhäufung zu Gunsten eines dynamischen und auch kreativen Wissensbegriffs hinaus.
4. In Bezug auf Wissen - und nur in Bezug auf Wissen - und dies auch nur in den drei genannten Bereichen werden die anderen erwähnten Dimensionen (Lernkontexte, Familie, Lernstrategien etc.) untersucht, d. h. es wird (lediglich) gefragt, inwieweit diese Dimensionen lernförderlich für die drei Kompetenzfelder sind oder nicht. Gerade weil die deutschen Autoren die Verbindung zu klassischen Bildungstheorien herstellen und PISA dort einordnen, sei an folgendes erinnert: Ernst Cassirer, dessen Kulturphilosophie gut zur Begründung von Bildung generell und speziell von kultureller Bildung genutzt werden kann, unterscheidet die symbolischen Formen der Sprache und Wissenschaft, der Technik, Wirtschaft und Politik, der Religion und des Mythos und schließlich auch der Kunst. Keine dieser Formen ist verzichtbar. Das PISA-Konzept geht auch von Weltaneignung und Weltbewältigung aus und bezieht sich dabei auf Sprache und Wissenschaft. Es ist - gerade vor der Folie von Cassirer - leicht zu sehen, was PISA nicht anspricht, was aber zur menschlichen Persönlichkeit und ihrer Weltaneignung gehört: nämlich Kunst und Politik, Wirtschaft und Technik, Religion und Mythos. Insgesamt muss man daher feststellen, dass PISA unter den notwendigen Möglichkeiten der Mensch-Welt-Beziehung nur einen sehr kleinen Teil berücksichtigt.
5. Dies gilt im wesentlichen auch für Kapitel 7, das die soziale Kompetenz (hier: Kooperation und Kommunikation) behandelt. Die Ergebnisse sind wenig überraschend (Mädchen sind stärker prosozial orientiert als Jungen; S. 312; gute Beziehungen zwischen Jugendlichen und den Lehrkräften gehen einher mit guten sozialen Kompetenzen; 320). Interessanter als die Ergebnisse dürften für unsere Zwecke die Erhebungsmethoden sein. So wird etwa "Handlungskompetenz" wie folgt modelliert (S. 301):
1. Kognitive Aspekte
* Perspektivübernahme
* Soziale Selbstwirksamkeitsüberzeugung
2. Emotionale und motivationale Aspekte
* Empathie
* Soziale Orientierung (individualistisch, egalitär, aggressiv)
* Soziale Ziele bezogen auf Verhalten in Schule und gegenüber Gleichaltrigen
- Unterstützung von Mitschülern/innen
- Unterstützung von Gleichaltrigen
- Einhaltung arbeitsbezogener Normen im Klassenzimmer
- Einhaltung von Versprechen gegenüber Gleichaltrigen
3. Werthaltungen
* Verantwortungsübernahme
* Verantwortungsabwehr
6. "Bildung" kann als Herstellung eines bewussten Verhältnisses zu sich, seiner Geschichte und Zukunft (Selbstreflexion), zu anderen Menschen (Sozialkompetenz), zur natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt bestimmt werden. Bildung ist Förderung der Persönlichkeit im Kognitiven und Emotionalen, im Sozialen und Motorischen.
PISA untersucht etwa durchaus die Bewusstheit des Einzelnen zu sich, jedoch lediglich im Hinblick auf den Umgang mit Wissen, mit Lernstrategien, mit dem Konzept von sich im Hinblick auf Mathematik und Naturwissenschaften. Dies ist alles Teil von Bildung, aber eben nur ein Teil.
7. PISA kann Hinweise dazu geben, was sich an Schule und Unterricht ändern muss, weil offensichtlich das bisherige System schlecht funktioniert - was sich jedoch nur im Hinblick auf die untersuchten Bereiche sagen lässt. Für eine Reform des Bildungswesens ist dies definitiv zu wenig. Notwendig ist daher nicht nur eine Diskussion über die von PISA gezeigten Qualitätsmängel, sondern auch darüber, wie der Teil von Bildung, den PISA behandelt, bewertet werden muss. Welche Rolle spielen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften für die Life Skills? Für den Beruf? Für die Wirtschaft? Für das persönliche Glück? Für das Gemeinwesen? Haben andere relevante Kompetenzfelder nicht vielleicht andere Anforderungen an die Organisation des Bildungswesens? Wo werden die Kompetenzen denn überall erworben? PISA hat auch im Hinblick auf Bildungsorte eine sehr enge Perspektive: Es geht nur um die Schule. Aber wo bleiben Familie, Peers, Jugend- und Kulturarbeit?
8. Ebenfalls im Max-Planck-Institut in Berlin wird der deutsche Beitrag zu einem anderen internationalen Evaluierungsprojekt realisiert: civic education. Dort wird seit 1996 die Bereitschaft zur politischen Partizipation unter deutschen Schülern/innen untersucht - ebenfalls mit schlechten Ergebnissen im internationalen Vergleich. Es müssten bei einem angemessen weiten Verständnis von Bildung zudem Fragen der allgemeinen Werteorientierung, der Entwicklung von Sinnlichkeit und Emotionalität, der kulturellen und künstlerischkreativen Kompetenzen einbezogen werden. So geht das Forum Bildung etwa von einem sehr viel breiteren Kompetenzbegriff aus, der sich wie folgt gliedert:
* Lernkompetenz (Lernen des Lernens)
* Verknüpfung von "intelligentem" inhaltlichen Wissen mit der Fähigkeit zu dessen Anwendung
* methodisch-instrumentelle (Schlüssel-)Kompetenzen, insbesondere im Bereich Sprache, Medien und Naturwissenschaften
* soziale Kompetenzen sowie
* Wertorientierungen.
Diese sechs fundamentalen Kompetenzen, die sich das Forum Bildung zu eigen gemacht hat, basieren auf einem Grundlagenbeitrag des deutschen Psychologen F. Weinert zu dem OECD-Projekt DeSeCo (Definition and Selection of Competencies: Theoretical and Conceptual Foundations) (Bl. 22).
9. Auf nationaler Ebene ist zur Erweiterung der PISA-Perspektive die Streitschrift des Bundesjugendkuratoriums "Zukunftsfähigkeit sichern! Für ein neues Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe" (Berlin/Bonn 2002) zuzuziehen, das auf der Basis eines weiten Konzeptes von Bildung ebenfalls weit reichende bildungs- und jugendpolitische Forderungen erhebt.
10. Fazit: Eine notwendige Reform des Bildungswesen muss berücksichtigen:
* Bildung ist mehr als Wissen
* Wissen ist mehr als Mathematik und Naturwissenschaft
* (Schlüssel)Kompetenzen sind weiter zu fassen als Lese- und Lernkompetenzen (in den drei genannten Kompetenzfeldern)
* Bildung findet nicht nur in der Schule, sondern überall statt.
* Professionell angeleitete Bildungsprozesse finden insbesondere in Einrichtungen und Orten der Kinder- und Jugend(kultur)arbeit statt.
Materialien
OECD: Knowledge and Skills for Life. First Results from PISA 2000. Paris: OECD 2001.
Deutsches PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im inernationalen Vergleich. Opladen: Leske und Budrich 2001.
OECD/DeSeCo: Description and Selection of (Key-)Competencies. Info: www.oecd.org
Materialien zum Forum Bildung: www.forumbildung.de
Bundesjugendkuratorium/BMFSFJ: Zukunftsfähigkeit sichern. www.bmfsfj.de
Internationale Vergleichsuntersuchung "Civic Education", Informationen ebenfalls über das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: www.mpig.de
24.01.2002