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Der Autor Wilfried Krätzschmar geht im nachfolgenden Beitrag auf die Diskussion in MusikForum 2003/1 (erschienen im Oktober 2003) ein. Unter dem Schwerpunktthema "IST POPMUSIK HOCHKULTUR?" stellte der Deutsche Musikrat e.V. in seinem Verbandsorgan sein zukünftiges nachhaltiges Engagement "für die Popularmusik" dar. Da ein Abdruck dieses Beitrages in der nächsten Ausgabe des Musikforums nicht möglich ist, stellt "Musik in Sachsen" (Hrsg.: Sächsischer Musikrat) diese Plattform gern zur Verfügung.
Erfreulich engagierte Beiträge, ein vielfarbiger Disput, spannend zu verfolgen - beim Versuch eines Fazits zu dieser Themenrunde über "E und / mit / gegen / neben / über / unter / trotz / wegen / ... / U" bleiben vier Fragen.1. Soll uns wirklich alles gleich sein? Wer davon redet, doch nun endlich auch in der Musik die letzten Grenzen fallen zu lassen, wo heutzutage überall alle möglichen Grenzen fallen und fallengelassen werden, darf sich des weitreichenden Beifalls sicher sein. Wer wollte schon etwas gegen Grenzenlosigkeit haben, gegen Gesamtheiten, Gemeinsamkeit und Brückenschlagen? Die Metapher mit den Brücken ist ja auch einfach schön. Allerdings eben für viele Belange in der lebendigen Praxis zu schön und zu einfach. Wer das, aus welchen Gründen auch immer, übersieht oder verschweigt, hilft der Sache nicht weiter, auch nicht mit noch so netten Bildern. Denn das Fatale ist, dass die tatsächlichen Fragen, die zur Zeit auf Antworten warten, jenseits der schönen Sprüche angesiedelt sind, und nur dort ernsthaft zu behandeln. Das bloß gut Gemeinte, das euphorisch Gewünschte oder beifallheischend Bekundete dürften eher verdrängend als nützlich wirksam werden.
Es fällt auf, wie emotional die Debatte um "E" und "U" angefacht ist, und man fragt sich, woher das kommt. Die Grenzverwischer helfen auch dabei wenig, denn sie weichen den Fragen aus. Das Argument, es sei doch mittlerweile eh alles gleich, und daher gleich zu achten und zu bewerten und auch zu behandeln, klingt allenfalls freundlich, entbehrt jedoch jeglicher Brauchbarkeit. Dass alles, was sich durch Schall mitteilt, Musik, und alles, was über Buchstaben rezipierbar, Literatur sei, ist nicht einmal als frommer Wunsch diskutabel. Die als anscheinende Befreiung ausgegebene Losung von der Gleichheit ist eine Ausrede, die sich vor den Anstrengungen drücken will, die der Umgang mit Differenzierungen bereitet.
2. Geht es überhaupt um Musik ?
Die Hitzigkeit der Debatte hängt offensichtlich mit dem Unbehagen an einer gesamtgesellschaftlichen Situation zusammen. Zu registrieren ist der vielerorts aufwallende Ausdruck von ratlosem Unmut ob einer Befindlichkeit von gleichermaßen fortschreitender Sattheit wie Ahnungslosigkeit, Desinteresse, Überdruss und zynischem Amüsiergebaren - einer unguten Gemengelage, die nach stetigem leichtfertigen Abgleiten das Wohlgefühl nun störend überwirft. Im Wesentlichen geht es gar nicht um Musik. Der musikkulturelle Schauplatz ist nur ein Bezirk im Ganzen, der symptomatisch abbildet, was allgemein und umfassend auf der Tagesordnung steht: die Frage nach der Orientierung, nach dem Gesicht unserer Gesellschaft; ob und welche Wertbegriffe wir noch gelten lassen, noch haben, und überhaupt haben wollen; ob wir zum Beispiel PISA als Ausrutscher registrieren und in gewohnter Weise mittels Kampagnen mal eben wieder wettzumachen gedenken - oder als eine Überlebensaufgabe begreifen, die eine Chance zum Gelingen nur haben wird, wenn wir uns jeder einzelnen Konsequenz ohne Ausflucht stellen. Mit dem Verändern der Schulpraxis - auch wenn ?Reform? wieder so schön klingt! - wird man den geringsten Teil notwendiger Neuorientierung (groß ist die Versuchung zu sagen: Rückbesinnung) erfassen. Hier ist sehr tiefen Ursachen nachzugehen, beginnend mit einer so lapidaren Frage, ob in unserem eingerichteten Alltag und in unseren gesellschaftlichen Modellen Kinder und Jugend wirklich den Platz haben, der ihnen zukommen muss. -
Die aktuelle Diskussion um unsere Musikkultur hat nur Aussicht auf brauchbare Resultate, wenn sie sich in diesen gesamten Horizont einbezieht. Und wenn klar ist, dass es nichts bringt, vorwurfsvoll mit dem Finger aufeinander zu zeigen und zum Beispiel "E" und "U" in pauschale Töpfe zu verweisen, die genauso untauglich sind wie der ganz große Kübel mit dem beschworenen alles vereinenden Volkseintopf. Dass vielmehr überall die Frage der Hygiene des Hörens im ästhetischen Verständnis dringend zur Debatte steht; ob Sorgfalt des Aneignens noch gelernt werden soll und gelehrt und vorgelebt und von wem; oder ob wir einer Fast-Food-Mentalität auch im Musikalischen den Raum überlassen; ob Sinn für Qualität samt der Fähigkeit des Urteils und dem Wagnis persönlichen Geschmacks lieber über Bord sollen, weil sie mit dem Zwang zu differenzieren für ein bequemliches Fun-Dasein zu uneben sind? Ob solche Fragen nur ein paar aus Anstand geduldete Berufsmahner angehen? Oder nur den Deutschen Musikrat - verweisbar in die Ausschüsse? Oder eigentlich alle - was heißt, ganz zuvorderst die Politik?
Die Aufgabe des Deutschen Musikrates ist es, Verantwortung wahrzunehmen für die angemessene Pflege der musikalischen Landschaft in ihrer Gesamtheit. Dass der Popbereich dabei nun aufmerksamer als bisher ins konzeptionelle Blickfeld genommen wird, dürfte vor allem dem Deutschen Musikrat und seinem Selbstverständnis zum Vorteil gereichen; auf jeden Fall mehr, als dass sein bisheriges Konzept der Verbreitung der Popkultur geschadet hätte - wie es ja auch der zeitgenössischen Musik nicht etwa zu eklatanten Vorteilen verholfen hat. Dem Deutschen Musikrat fällt kraft seiner versammelten Kompetenz die Verantwortung zu, diejenigen mit seinem Rat zu begleiten, die die Bedingungen für ein gedeihliches Entwickeln der Musiklandschaft politisch zu gestalten haben, dieses Gestalten kritisch zu reflektieren, wo nötig den begleitenden Rat auch zwingend zu übermitteln, und mit eigenen aktiven Impulsen in wesentlichen Bereichen des Musiklebens Entwicklung in Bewegung zu halten. Allenfalls in einer sekundären Ebene sollte sich der Deutsche Musikrat aufgerufen fühlen - und vielleicht nur, wo es für diese genannten Aufgaben unverzichtbar ist - , Definitionen zu verfassen und die Bestandteile des Musiklebens in Regale zu sortieren und mit Preisschildern zu versehen. Insofern sind die - wenn auch engagiert geführten - Dispute, was denn nun "E", "U", "Pop", "Crossover", "Avantgarde" usw. eigentlich sei, wenig fruchtbar für die akuten Aufgaben aktueller Musikpolitik.
3. Dürfen Unterschiede geduldet werden?
Nicht nur das, sondern sie sind nachgerade die Beweise für die Qualität hochentwickelter Systeme. Jedes komplexe Gefüge erreicht nur durch Abstufungsprinzipien seinen Standard und kann auch nur durch die Differenziertheit seiner Teilsysteme sich behaupten.
Die Notwendigkeit zu differenzieren wird zum Beispiel schon in den Wortmeldungen zur Frage, was denn Popmusik eigentlich sei, eindrucksvoll deutlich. Die vorgeführte Spannweite der Positionen von Udo Dahmen bis Dieter Bohlen wirkt atemberaubend. Sie zeigt, wie unerlässlich es ist, bereits innerhalb des Sektors "Pop", der ja ebenfalls bereits als ein Teilsektor von "U" anzunehmen ist, genau zu unterscheiden, damit klar ist, wovon eigentlich gesprochen wird. Mit Sicherheit ist eine vergleichbare Situation auch in "E" vorhanden, so dass man sich fragt, woher die Vermengungsstrategen den Wagemut nehmen, das alles über einen Leisten schustern zu wollen. Es fällt auch auf, dass zwar eine zunehmende Verbreitung von Cross-Over-Kreationen beschworen wird, als Kronzeugen aber nur dieselben wenigen (nicht ganz frischen) Namen immer wieder herhalten müssen.
Zu diskutieren, ob Trennlinien zu ziehen sind, ist ziemlich müßig gegenüber der Erörterung, zu welchem Zweck jeweils Unterscheidungskriterien gebraucht werden und welche. Differenzierung ist ein Werkzeug, um mit Fragestellungen auf kulturpolitischer, musikästhetischer, philosophischer oder wirtschaftlicher Ebene angemessen umzugehen. Dazu erfordert jede der Ebenen das ihr gemäße begriffliche Instrumentarium. Die Vorstellung eines einheitlichen, für alle Belange gleich-gültigen zentralen "Kategorien-Sets" ist eine gedankliche Falle. In ihr lauert zusätzlich der Köder, dem immer wieder aufgesessen wird: man könne das Wesen von Erscheinungen definieren, indem man ihre Beschaffenheiten dingfest macht. ("Ein Motiv ist prägnant und zwei Takte lang.") Wirklich zu erfassen ist das Wesentliche aber nur, wenn die Funktionalität aufgedeckt wird, von der aus sich auch die Beschaffenheiten im einzelnen sinnvoll beschreiben lassen.
Wenn die GEMA wohlweislich, und aus umfänglich ausgereifter Erfahrung, zwischen E und U unterscheidet, um ihrem Auftrag als treuhänderische Inkassogesellschaft so genau wie möglich gerecht zu werden, gilt die Unterscheidung just für diesen Auftrag. Diese Ebene hat nichts damit zu tun, ob ein Hörer E-Musik auch unterhaltsam finden darf oder ein U-Komponist ein ernsthaftes Leben führt oder eben viele Komponisten für alle möglichen Zwecke Werke schaffen, ohne damit gegen das Prinzip der Trennungslinien zu verstoßen. Überall gibt es Unterschiede. Statt davon zu reden, wie wir die größeren verwischen könnten, sollten wir uns bemühen, auch mit den kleineren sorgfältig umzugehen, um daraus Gewinn zu ziehen.
4. Wohin mit dem Müll?
"... dass 90 % dessen, was im Momentim Popmusikbereich gemacht wird, Umweltverschmutzung darstellt." (Heinz Rudolf Kunze)
"Aber es gibt auch Müllberge der Ernsten Musik." (Dieter Bohlen)
Beiden ist nicht zu widersprechen. So gesehen scheint derjenige recht zu haben, der meint, es gäbe für ihn eben nur gute und schlechte Musik, in welchem Bereich auch immer. Vielleicht reicht das als bescheidenster Level einer einfachen Konsumphilosophie sogar aus, zumindest, wo jemand so viel Bescheidenheit aufbringt. Und immerhin ist ja, wer so unterscheiden kann, schon zu beglückwünschen. Für eine Fachdiskussion, für kulturpolitische Überlegungen und daraus folgende Entscheidungen, für alle die oben genannten möglichen Ebenen von Bewertungskriterien ist mit solchem Simpel-Werkzeug nichts Verwendbares herzustellen. Mit derselben Art von Tauglichkeit könnte sich die Meteorologie auf die Feststellung zurückziehen, dass es gutes und schlechtes Wetter gibt, und damit ihren wissenschaftlichen wie auch ihren Informationsauftrag für abgegolten erklären.
Entsprechend dem oben zitierten Prinzip der Funktionalität wäre demnach über die Feststellung, dass der Müll existiert, hinaus zu prüfen, was damit geschieht. Hierbei tritt ein erheblicher Unterschied von E und U zutage!
Denn der Müll, der zugegebenermaßen im U-Bereich produziert wird, findet zusammen mit den wohlgelungenen Arbeiten unterschiedslos massenhafte, flächendeckende, pausenlose Verbreitung; er regnet auf die Häupter der Bevölkerung, selbst wo jemand nicht will, hernieder, überall zu haben wie die Segnungen der Zigarettenindustrie (allerdings ohne den warnenden Hinweis auf die Schäden für die geistige Gesundheit).
Im E-Musik-Bereich finden dagegen, abgesehen von dem ebenfalls zugegebenen Müll, auch die meisten wohlgelungenen Produkte und viele maßstabfähige Kunstwerke nicht einmal Gelegenheit, überhaupt öffentlich zu werden, selbst wo jemand es gern wollte. Hier existiert quasi eine ganze Landschaft aus Kulturgut, die lebendige musikalische Gegenwart dieses Gemeinwesens, die eben diesem Gemeinwesen völlig unbekannt bleibt. Auch von daher verdichten sich ungute Vermutungen über die Untergründe für das merkwürdig gestörte Selbstverständnis dieser unserer Gesellschaft. Und es sollte diese Tatsache bei jedem Disput um U und E immer zuallererst benannt werden, damit er in einem fairen Rahmen stattfindet.
Das bedeutet auch, über gleichmäßige Förderung erst dann zu reden, wenn annähernd vergleichbare Existenzbedingungen tatsächlich vorhanden sind. Dass der Deutsche Musikrat bisher die Arbeit einer Intensivstation für die E-Musik geleistet hat, um vor dem Zustand vollkommener Bewusstlosigkeit zu bewahren, kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden.
Inzwischen gibt es ja auch Stimmen, die meinen, an ihrem beklagenswert geringen Öffentlichkeitsanteil sei die E-Musik selber schuld. Und es wird vorgeschlagen, die deutschen Komponisten sollten doch auch "naiv, tonal, spirituell, funktional, optimistisch, volksnah" sein dürfen (Enjott Schneider, nmz 07-08/2003). Unter dem Aspekt mancher Einseitigkeit von Festivals oder des Tunnelblicks des Feuilletons mögen solche Stoßseufzer nur allzu verständlich klingen. Aber es handelt sich hier um Wertekategorien von weitreichender Grundsätzlichkeit, für die nicht genug Sorgfalt aufgebracht werden kann, will man mit ihnen an Zukunftsbildern laborieren. Empfehlungen, wie Komponisten schreiben sollten, sind aus den östlichen Gegenden unseres Landes noch bekannt, wo die Funktionäre den Künstlern - freundlich ausgedrückt: nahelegten - "volksverbunden", "parteilich" und "optimistisch" zu komponieren.
Vielleicht sollte man heutzutage, statt, wie jeder zu komponieren hat, als Zuspitzung empfehlen, überhaupt nicht mehr zu komponieren, weder E noch U; es ist von allem genug vorhanden, und kostet außerdem nur Geld. Dann hätten wir weder Sorgen mit dem Müll noch mit dem Geld noch mit dem Diskutieren. Das fänden sicher breite Massen ungeheuer populär.
Dresden, Dezember 2003