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(nmz) Zum 25. Jubiläum der Gustav Mahler Musikwochen in Toblach zieht Thomas Schulz in Form eines etwas umfangreicheren Features Bilanz. Er liefert ein farbiges Bild, angereichert mit Buch- und Audio-Ratschlägen. (Vor-Veröffentlichung aus der kommenden nmz-Ausgabe).
Auf den ersten Blick unterscheidet das Süditoler Dorf Toblach eigentlich wenig von anderen typischen Fremdenverkehrsorten der Region. Es gibt eine barocke Dorfkirche, viele Hotels und natürlich eine herrliche alpine Landschaft. Das malerische Hochpustertal bietet dem Naturfreund zahllose Möglichkeiten für Wanderungen und Spaziergänge; die legendäre Bergmassiv der Drei Zinnen befindet sich in unmittelbarer Umgebung. Und dennoch: Etwas ist anders in Toblach. Wer sich im Juli oder August dorthin begibt, wird feststellen, dass der Geist eines Komponisten über dem Ort schwebt – der Geist Gustav Mahlers. Überall hängen Plakate mit seinem Konterfei, in der Ortsmitte steht ein Mahler-Denkmal, und die Abgrenzung des Fußwegs, der auf dem Gelände des Grand Hotels den Konzertsaal mit der Cafeteria verbindet, zieren Verse aus dem "Lied von der Erde". Diese Omnipräsenz kommt nicht von ungefähr: Toblach ist der Ort, in dessen Nähe der Komponist in den Jahren 1908 bis 1910 seine Sommerurlaube verbrachte und die letzten drei Werke seines Œuvres schuf: das "Lied von der Erde", die Neunte und das Fragment der Zehnten Sinfonie.Mahler sucht ein Sommer-Refugium
Nach der ersten erfolgreichen Saison in New York 1908 befand sich Mahler auf der Suche nach einem neuen Sommerrefugium. Nach Maiernigg am Wörthersee wollte er auf keinen Fall zurück. Dort war im Juli 1907 seine älteste Tochter Maria Anna gestorben, und bald darauf wurde Mahlers Herzerkrankung festgestellt. Bereits kurz darauf hielten sich Mahler und seine Familie in oder bei Toblach auf, und Ende Mai 1908 entdeckten Gustav und Alma den Trenkerhof, keine zwei Kilometer von Toblach entfernt. Dort zog Mahler Mitte Juni bereits ein, und ganz in der Nähe ließ er sich, wie auch schon vorher in Steinbach am Attersee und in Maiernigg ein Komponierhäuschen bauen. In dieser Holzhütte schrieb er seine letzten Werke.
Hatte Mahler anfangs noch Eingewöhnungsschwierigkeiten – der Tod der Tochter lag nicht lange zurück, und aufgrund der eigenen Krankheit musste er seinen Bewegungsdrang einschränken bzw. kontrollieren –, so schwärmte er schon bald von seinem neuen Sommerdomizil: "Ich befinde mich in diesem Sommer auf neuem Terrain", schrieb er im August 1908 an Adele Marcus. "Es ist wundervoll hier, und die Abgeschlossenheit und Ruhe dieses Plätzchens erlaubt mir, mich wieder in gewohnter Weise einzuspinnen." Die Toblacher Sommerfreuden wurden für Mahler im Sommer 1910 allerdings zur Tortur, als er hier vom Verhältnis seiner Frau Alma mit dem Architekten Walter Gropius erfuhr.
Mahler pflegte zwar keinen Umgang mit der Bevölkerung von Toblach, doch war die Erinnerung an ihn und seinen Aufenthalt in dieser Gegend im Grunde immer, wenn auch unterschwellig, präsent. Und so gedachte man in Toblach des Komponisten schon lange, bevor der große Mahler-Boom einsetzte: im Herbst 1957, in Zusammenarbeit mit der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft wurde am Trenkerhof und am Komponierhäuschen eine Gedenktafel enthüllt, und im selben Jahr benannte man eine Straße nach dem Komponisten.
Toblachs frühes Mahler-Marketing
Ende der siebziger Jahre gab es in Toblach erste Bestrebungen, in Zuammenhang mit Gustav Mahler etwas zu organisieren – was genau, wusste man vorerst noch nicht; das Bedürfnis war zuallererst, durch Mahler den Ort Toblach bekannter zu machen. Die Pläne nahmen allerdings recht bald konkrete Gestalt an, und im Sommer 1981 fand die erste "Musikwoche in memoriam Gustav Mahler" statt, nach dem kurz zuvor das Gustav-Mahler-Komitee gegründet worden war. Als künstlerische Leiter firmierten in den ersten Jahren Heinz Klaus Metzger und Ugo Duse. Von Anfang an waren Gespräche und Vorträge über Mahler Bestandteil der Veranstaltung – eine Konzeption, die nicht zuletzt aus der Not geboren war, denn Konzertsäle, in denen man Mahler-Sinfonien hätte aufführen können, gab es in Toblach (noch!) nicht. Mangels einer Aufführungsmöglichkeit für großorchestrale Werke entschied man sich, Reduzierungen und kammerorchestrale Bearbeitungen Mahler\'scher Werke aufs Programm zu setzen, etwa aus dem Umkreis von Arnold Schönbergs "Verein für musikalische Privataufführungen". Diese Praxis stieß nicht überall auf Gegenliebe, und überhaupt gab es einige Anfangsschwierigkeiten künstlerischer sowie menschlich-persönlicher Art, die zu einem raschen Wechsel der künstlerischen Leiter führten. Auf Metzger und Duse folgten Quirino Principe (1984), der Mahler-Biograph Henry-Louis de la Grange (1986), der Südtiroler Komponist Hubert Stuppner (1988) und der Wiener Pianist Rainer Keuschnig (1991). Seit 1994 liegt die künstlerische Leitung nun in den Händen von Josef Lanz. Er erinnert sich an die ersten Jahre des Festivals: "Zu Beginn wollte man eigentlich nur Mahler ein paar Jahre feiern; man dachte überhaupt nicht daran, es fortzuführen. Ich denke, dass die Überwindung der Schwierigkeiten, die zu Beginn da waren, letztlich dazu genützt haben, weiter zu machen. Immer einen Baustein hinzuzugeben und versuchen, Probleme zu lösen, das stärkt den Ehrgeiz. Und da haben uns auch die vielen Mahler-Freunde und Experten, die von Anfang an zu uns reisten, sehr geholfen. Wir sind mit ihnen zusammengewachsen, sie kommen jedes Jahr, es sind Freunde geworden, und diese Freunde haben uns immer wieder ermutigt, nicht aufzugeben."
Hier ist ein wesentlicher Punkt angesprochen, der den Mahler-Wochen ihr unverwechselbares Flair verleiht: Es handelt sich in erster Linie um eine Veranstaltung von Enthusiasten für Enthusiasten. In Toblach wird keine Event-Kultur zelebriert, sondern hier treffen sich Begeisterte und Fans, um sich (nicht nur) über Mahler auszutauschen. Es herrscht eine enorm offene und kommunikative Atmosphäre, und man muss kein Musiker oder Musikwissenschaftler sein, um sofort akzeptiert zu werden und an den lebhaften Diskussionen teilzuhaben – in der Konzertpause, nach dem Konzert und anschließend im Hotel. Und nicht zuletzt spielt beim Gesamtambiente der Mahler-Wochen die Landschaft, die der Komponist so liebte, eine entscheidende Rolle. Gilbert Kaplan, in diesem Jahr zum ersten Mal in Toblach zu Gast, bringt es auf den Punkt: ."Man spürt wirklich die Verbindung zwischen der Natur hier in Toblach und der Musik, die Mahler hier schrieb. Und dann natürlich: Mahlers Hotelzimmer zu besuchen und das Komponierhäuschen, wo er seine letzten Werke schrieb – das muss jedem ans Herz gehen, der diese Musik liebt."
Das "Mahler-Protokoll"
Seit 1981 hat sich naturgemäß einiges entwickelt. So gibt es seit 15 Jahren das "Toblacher Mahler-Protokoll" und den dazugehörigen Schallplattenpreis "Toblacher Komponierhäuschen". Beide Projekte wurden von Attila Csampai ins Leben gerufen, der dem Festival seit 1991 verbunden ist. Das "Mahler-Protokoll" bündelt die Vorträge, die schon immer das Festival mitgeprägt haben und versteht sich als "Brennspiegel der internationalen Mahler-Rezeption" (Csampai). Das "Toblacher Komponierhäuschen" schließlich dient zur kritischen Sichtung und Bewertung des kaum noch zu übersehenden Wusts von Aufnahmen der Musik Mahlers. Eine Jury von fünf angesehenen Schallplattenexperten entscheidet alljährlich über die ihrer Meinung nach besten Mahler-CDs, und zwar in den Kategorien "Wiederveröffentlichungen", "Neuproduktionen" und "Sonderpreis". Es handelt sich um einen der wenigen wirklich unabhängigen Schallplattenpreise, und als solcher wird er von der internationalen Mahler-Gemeinde auch wahrgenommen.
Seit 1999 gibt es endlich einen "echten" Konzertsaal im Gebäudekomplex des ehemaligen Grandhotels, das zum Kulturzentrum umfunktioniert wurde. Die klare Akustik des Gustav-Mahler-Saals bietet nun die Möglichkeit, Mahlers Sinfonik im adäquaten Ambiente zu rezipieren, nach dem vorher nur die hallige Pfarrkirche und anschließend die akustisch ebenfalls alles andere als ergiebige Turnhalle der Mitttelschule zur Verfügung gestanden hatten.
"Toblacher Mahler-Gespräche"
Dem "Mahler-Protokoll" wurden 2004 die "Toblacher Mahler-Gespräche" zur Seite gestellt – ein Projekt der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien. Seit Beginn der Toblacher Mahler-Wochen hatte die Gesellschaft deren Aktivitäten mit Interesse verfolgt und begleitet, und 2003 kam es zu einer Vertiefung der Beziehungen. Nach den Worten von Erich Wolfgang Partsch, Vizepräsident der Mahler-Gesellschaft, verstehen sich die Gespräche als "eine Ergänzung mit einem anderen Schwerpunkt. Das Mahler-Protokoll ist vor allem auf Rezeption ausgerichtet und hat durch den Schallplattenpreis in disem Gebiet seinen ganz eigenen Bereich. Wir wollen jeweils zu einem bestimmten Generalthema in Form von Vorträgen Blickpunkte setzen. In diesem Jahr ist es \'Mahler in Toblach\', im nächsten Jahr geht es um \'Mahler und Russland\' – einmal etwas ganz anderes".
Bleibt noch zu erwähnen, dass das ursprünglich lediglich eine Woche umfassende Festival unter Josef Lanz\' künstlerischer Leitung im Jahre 2000 auf vier Wochen ausgedehnt wurde (seitdem der Name "Gustav Mahler Musikwochen") und dass seit 2002 auch andere Gemeinden an den Veranstaltungen teilhaben – im Sinne eines "Hochpustertaler Kultursommers". Besonders letzteres ist für Lanz ein dringend notwendiger Schritt – doch dazu später.
Gustav Mahler Musikwochen
Die 25. Toblacher Gustav Mahler Musikwochen standen also unter dem Motto "Gustav Mahler in Toblach". Konsequenterweise gelangte die "Toblacher Trilogie" im Mahler-Saal zur Auführung. Das vorwiegend aus jungen Musikern bestehende ungarische Danubian Symphony Orchestra interpretierte unter Leitung des Dirigenten Domonkos Héja das Adagio aus der 10. Sinfonie sowie das "Lied von der Erde" – zumindest auf orchestraler Ebene eine ungemein beeindruckende Darbietung. Der chinesische Dirigent En Shao leitete das Radio Sinfonie Orchester Ljubljana in der Sinfonie Nr. 9. Zu Beginn des Festivals hatte das Bundesjugendorchester unter Gerd Albrecht Mahlers Erste Sinfonie aufgeführt. Ferner gab es zwei Liederabende mit Stefanie Irányi (Sopran), Konrad Jarnot (Bariton) und Helmut Deutsch (Klavier); auf dem Programm standen Werke von Mahler und Strauss. Die ursprünglich geplante Aufführung sämtlicher "Wunderhorn"-Lieder mit Diana Damrau und Iván Paley musse wegen Krankheit der Sänger entfallen. Das italienische Trio di Parma überzeugte mit fein austarierten und lebensvollen Interpretationen von Beethovens "Erzherzog-Trio" und Schumanns Klaviertrio g-Moll op. 110.
Am meisten Aufsehen erregte jedoch ein Konzert, das insofern in bester Toblacher Tradition stand, als man sich hier schon lange auch abseits der ausgetretenen Pfade des klassischen Mainstreams bewegt hat. 1998 stellte der Jazzmusiker Uri Caine in Toblach seine provokativen Mahler-Bearbeitungen zur Diskussion, und heuer war das amerikanische Kronos Quartet zu Gast und präsentierte als Uraufführung sein "Mahler Project", ein nach typischer Kronos-Manier bunt gemischtes Programm von Kompositionen der verschiedensten Stilrichtungen – ganz im Sinne Mahlers, in dessen Musik auch das Volkstümliche, ja Banale in gefilterter Form seinen Platz erhält. Von Alfred Schnittkes Drittem Streichquartett spannte sich der Bogen bis zu einem ambient-artigen Stück der Aserbajdschanerin Frangis Ali-Zadeh – und als Zugabe gab es Jimi Hendrix.
Hubert Stuppners „Mahler-Bilder“
Die Idee zu diesem Projekt entstand durch den Kontakt mit Hubert Stuppner, dessen "Mahler-Bilder" das Herzstück des Abends bildeten. David Harrington, Primgeiger des Quartetts: "Ich erzählte ihm über meine Gefühle, die ich mit Mahler verbinde und wie ich in seiner Musik Themen hörte, von denen ich wusste, dass das Kronos Quartet sie spielen könnte. Dann erzählte er mir von seinem Background und von diesem Festival, von dem ich gar nicht ahnte, dass es existiert. Am Ende unseres Gesprächs fragte ich ihn dann, ob er nicht ein Stück für uns schreiben könnte, dass Elemente von Mahlers Musik verwendet. Hätte ich nämlich zu Mahlers Zeit gelebt, hätte ich ihn gebeten, ein Streichquartett zu komponieren." Stuppner bezeichnet seine sechssätzigen "Mahler-Bilder" als "Paraphrasen" über Mahler\'sche Themen, zu Ehren der Interpreten durchsetzt mit Elementen der "minimal music" – für die sich Kronos ja schon immer stark gemacht hat. Es erklang ein temperamentvolles, geerdetes Werk – vielleicht ein wenig länglich –, das durchaus Chancen hätte, sich im Kronos-Repertoire zu behaupten.
In den "Mahler-Gesprächen" wurde, wie bereits erwähnt, Mahlers Beziehung zu Toblach beleuchtet. Nina Schröder referierte über Kultur im Pustertal um 1900, Erich Wolfgang Partsch beschrieb sehr anschaulich Mahlers Situation in seinen letzten Lebensjahren, seine verzweifelten Versuche, in Toblach noch einmal zur Ruhe – und zu sich selbst – zu finden, was ihm aber aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit und der Gropius-Krise nicht wirklich gelang. Partsch las auch – in Abwesenheit des Autoren – Jörg Rothkamms Abhandlung über die diversen Aufführungsfassungen der Zehnten Sinfonie. Einen ungemein lebendigen und launig präsentierten Vortrag bot Hubert Stuppner, der unter dem Titel "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus..." die Rezeption beleuchtete, die Mahler während seiner Toblacher Aufenthalte in der Südtiroler Presse erfuhr. Die Antwort war ernüchternd: eigentlich gar keine. Mahler wurde im deutschnational und antisemitisch geprägten Südtirol jener Zeit schlicht nicht zur Kenntnis genommen – und wenn doch, dann als Repräsentant einer Moderne, der man indifferent oder ablehnend gegenübertand. Die Internationale Mahler Gesellschaft hatte zum Jubiläum des Festivals – und zu ihrem eigenen, denn die Gesellschaft feiert in diesem jahr ihr 50-jähriges Bestehen! – außer den Gesprächen noch etwas anderes vorbereitet: erstens eine Ausstellung "Mahler in Toblach", die dauerhaft im Gebäude des Mahler-Saals verbleiben soll, und zweitens ein gleichnamiges Buch mit Beiträgen von Nina Schröder, Erich Wolfgang Partsch und Josef Lanz.
"The Inner World of Gustav Mahler"
Im Mittelpunkt der "Mahler-Protokolls" stand Gilbert Kaplans Vortrag "The Inner World of Gustav Mahler". Der amerikanische Geschäftsmann hat sich seit Jahrzehnten um die Mahler-Pflege verdient gemacht; er veröffentlichte das "Mahler Album", eine Bildbiographie des Komponisten, unterstützt zahllose Forschungsprojekte und arbeitet mit der von ihm gegründeten "Gilbert Kaplan Foundation" an einer neuen Kritischen Ausgabe der Zweiten Sinfonie, die voraussichtlich im Herbst erscheinen wird. Nicht zuletzt ist Kaplan auch Hobby-Dirigent. Er dirigiert zwar nur ein einziges Werk – Mahlers "Auferstehungssinfonie" –, dies aber auf der ganzen Welt. Seine erste Aufnahme der Sinfonie mit dem London Symphony Orchestra avancierte zur bestverkauften Mahler-CD überhaupt, und auch die Kritische Neuausgabe des Werks hat er bereits, mit den Wiener Philharmonikern, eingespielt. Sein Vortrag, von Attila Csampai als "wahres Mahler-Feuerwerk" angekündigt, hätte auch den Titel tragen können "Mahler – sein Leben und seine Musik". Unterstützt von zahlreichen Bildern und Tonaufnahmen, legte Kaplan dar, wie Mahlers Biographie, seine Gefühle und Gedanken, seine Musik prägte und damit die Form der Sinfonie revolutionierte. Kaplans Grundaussage: "Mahler eröffnet uns in seiner Musik auch unsere eigene innere Welt." Der Vortrag richtete sich nicht an den Experten, war jedoch dazu angetan, auch den letzten Skeptiker zu Mahler zu bekehren – man erlebte einen echten Enthusiasten.
"Bruno Walter – Mahlers Vollstrecker?"
Günter Schnitzler verdeutlichte in seinem Vortrag "Die Spuren von Mahlers Liedschaffen in seinen Sinfonien", wie sich Elemente des Lieds und des genuin Sinfonischen bei Mahler stets aufs Neue befruchten. Lothar Brandt gab unter dem Titel "Bruno Walter – Mahlers Vollstrecker?" einen Überblick über die zahlreichen Mahler-Aufnahmen eines Mannes, der den Komponisten persönlich kannte und nicht nur aufgrund dessen zu einem der authentischsten Interpreten von dessen Musik wurde, und dies obwohl (oder weil?) er nur einen Teil von Mahlers Sinfonik für die Schallplatte einspielte. Schließlich informierte Franz Willnauer über das Verhältnis Mahlers zur Sängerin Anna von Mildenburg im Spiegel seiner Briefe. Willnauer hat diese Briefe – über 200 an der Zahl! – gesammelt, geordnet und kommentiert; demnächst wird eine Buchausgabe davon erscheinen.
Und letztlich der Schallplattenpreis: So schnell war man sich noch nie einig, so die Jury. In der Kategorie "Historische Aufnahmen" reüssierte die "Bruno Walter Jacket Collection" mit in Amerika entstandenen Mahler-Aufnahmen des Dirigenten. Den Sonderpreis erhielt Riccardo Chaillys Gesamtaufnahme der Sinfonien mit dem Concertgebouw-Orchester. Damit wurde ein Mahler-Zyklus geehrt, der sich auf konsequent hohem Niveau befindet – und dies künstlerisch sowie klanglich. Chailly ist über die 20 Jahre, während der diese Einspielungen entstanden, zu einem der bedeutendsten Mahler-Dirigenten herangereift. Sein Mahler-Stil ist nach Csampais Worten als "Belcantismus ohne Schönfärberei" zu charakterisieren. Hätte Chaillys Mahler-Zyklus nicht den Sonderpreis erhalten, wäre seine Aufnahme der Neunten Sinfonie zur besten Neueinspielung gekürt worden. So ging die Palme an Claudio Abbados Interpretation der Sechsten mit den Berliner Philharmonikern. Jury-Mitglied Lothar Brandt: "Auszeichnungswert war vor allem der sehr eigenständige Ansatz der Interpretation: die demonstrative Abkehr vom Mainstream, wie man heute diese Sinfonie \'zu nehmen hat\' – also betont plakativ und theatralisch. Abbado nimmt das ganz bewusst zurück; er ist einer, der nicht in den fiktiven Helden der Sinfonie sich einfühlt, sondern diesen quasi von außen sein Leben durchleiden lässt. Insofern ist es eine ebenso individuelle wie schlüssige Darstellung des Werks."
"Das Komponierhäuschen ist im Grunde die Kultstätte…“
Die Gustav Mahler Wochen in Toblach begannen als Experiment und entwickelten sich zur Erfolgsgeschichte. Das Festival hat die Mahler-Rezeption durch die wichtigsten Phase ihres Aufschwungs begleitet. Nichtsdestoweniger gibt es noch einiges zu tun. Das betrifft zum Beispiel den Zustand des Komponierhäuschens, das momentan ein etwas trauriges Schattendasein in einem Wildpark fristet – sehr zum Kummer des Toblacher Mahler-Komitees: "Das Komponierhäuschen ist im Grunde die Kultstätte unseres Festivals– von hier gingen Energien hinaus in die Welt, und sie sollte auch weiterhin wichtig sein. Aber das Haus wird nicht gepflegt; es fehlt die Sensibilität. Mahler würde keinen Fuß mehr hier hinein setzen", so Josef Lanz. Unabdingbar ist auch die weitere Einbindung der Einheimischen in das Festival, auf dass es von ihnen umfassend als "unsere Mahler-Wochen" angesehen werde. Die finanzielle Seite ist wohl vorerst gesichert, doch es fehlen die Mittel, um die Aktivitäten noch aufzustocken. Lanz: "Um Mahlers Musik aufzuführen, benötigt es Interpreten der Spitzenklasse". Auch steht es auch kritisch um das Kulturzentrum Grand Hotel, das nach Ansicht von Lanz zu groß, sprich: zu teuer ist für das kleine Dorf Toblach allein: "Es können kaum die Betriebskosten gedeckt werden. Man müsste es unbedingt in eine größeren örtlichen Zusammenhang einbinden – etwa als \'Bildungszentrum Hochpustertal\' –, dann würden sich alle Gemeinden finanziell daran beteiligen und natürlich auch Mitspracherecht über die dort stattfindenden Aktivitäten erhalten. Eine Chance gibt es nur, wenn wir die Mahler-Wochen auf die ganze Region ausweiten, damit mehr Menschen an dem Festival teilhaben – nicht zuletzt auch dafür zahlen! – und auf diese Weise das Überleben des Grand Hotels sichern."
Und schließlich können die Gustav Mahler Musikwochen nur dann sinnvoll weiterbestehen, wenn ihr unverwechselbarer Charakter gewahrt bleibt. Das heißt: auf Star-Glamour und Event-Glimmer verzichten (davon gibt es erstens ohnehin mehr als genug, und zweitens können sich größere Orte diesbezüglich wesentlich besser produzieren) und weiterhin auf die Erfolgskombination von Musik, Vorträgen und Gesprächen setzen – genau jene Ingredienzien, die Toblach in den vergangenen 25 Jahren zu dem gemacht haben, was es ist: ein Mekka für Mahler-Enthusiasten.
Thomas Schulz
Informationen zu den Gustav Mahler Musikwochen in Toblach gibt es im Internet unter http://www.gustav-mahler.it
Internationaler Schallplattenpreis "Toblacher Komponierhäuschen" – die preisgekrönten Aufnahmen:
1) Bruno Walter Jacket Collection. Sony BMG SX13K 92460, 13 CDs
2) Gustav Mahler: Sämtliche Sinfonien. Riccardo Chailly, Royal Concergebouw Orchestra, Radio-Symphonieorchester Berlin. Decca 475 6686, 12 CDs
3) Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 6. Claudio Abbado, Berliner Philharmoniker. Deutsche Grammophon 477 5573 (CD), 477 5684 (2 DVDs)
Zum Weiterlesen:
Gustav Mahler in Toblach
In wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft
Herausgegeben von Erich Wolfgang Partsch und Josef Lanz
Mit Beiträgen von Nina Schröder, Erich Wolfgang Partsch und Josef Lanz
Buchverlag Athesia, Brixen 2005
104 S., 15,- €
ISBN88-901956-0-6