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Marathonlesung aus den Werken Hesses in Calw +++ Buchrezension: Brigitte Hamann über Winifred Wagner
Marathonlesung aus den Werken Hesses in Calw
Calw (ddp). Eine 48-stündige Marathonlesung aus den Werken des Literaturnobelpreisträgers Hermann Hesse startet am Freitag (14.00 Uhr) in seiner Geburtsstadt, dem württembergischen Calw. Ziel sei ein Eintrag in das Guinness-Buch der Rekorde, teilten die Veranstalter des Hesse-Festivals am Mittwoch mit. Ohne Unterbrechung werde im Zehn-Minuten-Takt auf den Treppen der Stadtkirche am Marktplatz gelesen.
Die ersten zwölf Stunden bis 2.00 Uhr nachts bestreiten den Angaben zufolge bekannte Calwer Persönlichkeiten. Danach setzen Schüler und Studenten die Reihe fort. Allerdings kann jedermann an der Aktion teilnehmen und ist in der Wahl des Textes frei. Hesse-Bücher können von zu Hause mitgebracht oder vor Ort ausgeliehen werden. Am Freitag tragen ab 15.20 Uhr rund 20 Minuten lang zwei Blinde aus Hesse-Werken in Braille-Schrift vor.
Die Lesung findet im Rahmen des neunwöchigen Hermann-Hesse-Festivals statt, das noch bis zum 31. August mit rund 250 Veranstaltungen das Leben und Werk des Dichters beleuchtet. Hesse wurde vor 125 Jahren in Calw geboren. Er gilt als der meistgelesene deutschsprachige Autor des 20. Jahrhunderts.
www.hesse2002.de
Buchrezension: Brigitte Hamann über Winifred Wagner
Bayreuth (ddp). Unbelehrbar war sie, und noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg schwärmte sie als alte Frau für Adolf Hitler: Winifred Wagner (1897-1980), die nach dem Tod ihres Gatten Siegfried von 1930 bis 1944 die Bayreuther Festspiele leitete. Bis vor Kurzem schien sie in Bezug auf den Nationalsozialismus die problematischste Figur im Wagner-Clan zu sein. Die Biografie der Historikerin Brigitte Hamann relativiert das Bild der begeisterten Hitler-Anhängerin ? und korrigiert noch ein anderes Image: das von Winifreds Sohn Wieland, der als großer Erneuerer Bayreuths und genialer Regisseur in die Nachkriegsgeschichte einging.
Über lange Jahre war die Sicht auf die Wagner-Schwiegertochter von Hans-Jürgen Syberbergs Dokumentation aus dem Jahr 1975 geprägt. In diesem Film präsentierte sich Winifred als ewig Gestrige, als Gönnerin und Freundin Adolf Hitlers, die aus ihrem Faible für den Nationalsozialismus kein Hehl machte. Dabei ignorierte sie die politischen Umstände, sprich, was «da draußen vor sich ging». Denn, so Winifred, das habe sie ja nicht berührt. Doch zur Ignoranz in politischer Hinsicht wollte ihr tatsächliches Verhalten nicht passen. Brigitte Hamann weist durch zahlreiche, zum großen Teil akribische Recherchen nach, dass sich die bekennende Antisemitin im Alltäglichen herzlich wenig von ihren Überzeugungen leiten ließ. Winifred nutzte ihre Kontakte zu den Machthabern und erwies sich in nicht wenigen Fällen als engagierte Fürsprecherin von Verfolgten - und das waren pikanterweise zumeist Juden, aber auch angebliche Kommunisten oder Homosexuelle. Schon nachdem Juden in Bayreuth öffentlich angespuckt wurden, schrieb sie Hitler, es sei skandalös, dass diese «honorigen Männer von rabiaten Leuten verhöhnt werden». Denn, so Winifred weiter, diese hätten sich durch ihre Lebensarbeit ein Anrecht auf Bayreuth erworben. Und auch über die Pogromnacht beklagt sie sich persönlich beim Führer.
Ein Paradoxon, wenn man bedenkt, dass die Familie Wagner und besonders Winifred seit 1923 den jungen Politstar Hitler verehrte und maßgeblich daran beteiligt war, ihm den Weg in die großbürgerliche Gesellschaft und die Zentren der Macht zu ebnen. Hamanns Verdienst ist es, gerade diesen Weg durch viele neue Details zu konturieren. Dass der Führer in Wahnfried ein- und ausging, ist lange bekannt, aber dass der bevorzugte Wieland häufig die Nähe zu «Onkel Wolf» suchte und nutzte - immerhin wurde er vom Kriegsdienst befreit ? und sich auch immer wieder mit Goebbels traf, konnte mit dieser Eindeutigkeit bisher niemand nachweisen. Unbekannt war auch, dass der Wagner-Enkel ziviler Leiter der KZ-Außenstelle Flossenbürg war. Hamann zeichnet ihn als kalten, intriganten Karrieristen, der selbst in den letzten Tagen des Krieges nur an sich selbst dachte. Doch die Zeichen der Zeit erkennend, gab sich Wieland gleich nach 1945 eine «neue Identität» und ging - auch mit Hilfe der Presse - als Antinazi durch. Zusammen mit seinem Bruder Wolfgang kreiert er ab 1951 ein neues Bayreuth und stilisierte sich zum linksliberalen Regisseur.
Obgleich Hamann wichtige Quellen, nämlich der Nachlass Winifreds und Siegfrieds, nicht zugänglich waren, ist es um so erstaunlicher, was sie auch auf Umwegen herausfinden konnte. Sie reiht Detail an Detail, beschreibt minutiös und anschaulich, ohne je zu werten. Eine Einordnung ist deshalb das Einzige, was man bei dieser spannenden Arbeit vermissen könnte, doch dagegen verwehrt sich die Historikerin mit Nachdruck.
(Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, 688 Seiten, Piper Verlag, ISBN 3-492-04300-3, 26,90 Euro.)