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6.6.: theater und literatur aktuell +++ theater und literatur

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Günter Grass: Martin Walser ist kein Antisemit +++ Müll, Stadt, Tod: Szenische Lesung zur Fassbinder-Kontroverse erhält unerwartete Aktualität +++ Forsythe stellt neue Spielzeit für Ballett und TAT-Theater vor +++ "Mit Aktion 18" gegen Möllemann - Schlingensief macht in NRW mobil

Günter Grass: Martin Walser ist kein Antisemit
Köln (ddp). Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat seinen Schriftstellerkollegen Martin Walser gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz genommen. Im gesamten umfangreichen Lebenswerk von Walser gebe es keine Zeile mit dem Hauch von Antisemitismus, sagte Grass am Dienstagabend in der ARD-Sendung "Boulevard Bio". Der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Frank Schirrmacher, hatte einen Vorabdruck des neuen Romans von Martin Walser wegen "antisemitischer Klischees" abgelehnt. Nach Ansicht von Grass ist Walser das Opfer in einem "Krieg der Feuilletons". Dies sei ein "infamer Vorgang".
Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sieht bei Walser keine Hinweise auf eine judenfeindliche Tendenz. Noch bei einer gemeinsamen Diskussionsveranstaltung am 8. Mai habe sich der Autor "in seltener Klarheit" vom Antisemitismus distanziert, sagte Schröder ebenfalls bei "Boulevard Bio".

Müll, Stadt, Tod: Szenische Lesung zur Fassbinder-Kontroverse erhält unerwartete Aktualität
Möllemann, Walser, Wehrmachtausstellung: Die Skandal-Maschinerie läuft und die Leipziger Schaubühne Lindenfels erweitert sie mit einer Debatte von 1976! Die szenische Lesung zur Fassbinder-Kontroverse "Der Müll, die Stadt und der Tod" hat durch die aktuellen Entwicklungen eine unerwartete Brisanz erhalten. Vorwürfe wie "Linksfaschismus" und "antisemitische Klischees" füllten bereits damals die Feuilletons.
Als weiterer Höhepunkt der seit März laufenden Fassbinder-Retrospektive begibt sich die Lesung mit Stückszenen und Dokumenten der Fassbinder-Kontroverse auf die Suche nach der provokativen Energie des Theatermannes Fassbinder: mit Anja Schneider, Rafael Banasik, Thomas Dehler und Aurel Manthei.
Leipzig, Schaubühne im Lindenfels, Sonntag, 9. Juni 2002 um 20.30 Uhr
Zum Stück:
Kann Kitsch provozieren? Fassbinders 1976 geschriebenes Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", pathetisch wütende Abrechnung mit den Verstrickungen in der Frankfurter Stadtpolitik, sorgte für den heftigsten deutschen Theaterskandal nach dem Ende des 2. Weltkrieges, die sogenannte "Fassbinder-Kontroverse": Ein "Reicher Jude", der allmächtig die Geldgeschäfte in Frankfurt kontrolliert, kauft neben Investruinen auch Menschen auf - zum Beispiel die ausgemergelte Hure Roma B.. Die sich durch die finanziellen Zuwendungen des Juden plötzlich in der Lage sieht, selbst ins Immobiliengeschäft einzusteigen, zur Businessfrau mutiert. Das Stück unterwandert jedoch den Gestus der Sozialkritik, indem es seine Figuren schamlos als kitschige Abziehbilder zeichnet, die jede Betroffenheitspose vereiteln. Eine Moritatenwelt aus Huren, Zuhältern, Transvestiten, Zwergen und Ausgeflippten, angeführt von dem schonungslosen jüdischen Spekulanten. Die Kritiker Fassbinders sahen in dem Text das "Heraufziehen eines neuen Linksfaschismus", andere eher ein "entsetzlich schlechtes Stück".
Der Text wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen vom Suhrkamp-Verlag zurückgezogen. Was folgte, war eine hochemotionalisierte Debatte, die sich keineswegs nur in den Feuilletons bildungsbürgerlicher Zeitungen abspielte. Noch 10 Jahre später wurde die geplante Uraufführung am Schauspiel Frankfurt verhindert, indem Mitglieder der Jüdischen Gemeinde die Bühne besetzten. 1998 flammte die Diskussion wieder auf, nachdem das Berliner Gorki-Theater eine Neuinszenierung des Stückes angekündigt hatte. Die wiederum nicht stattfand. Neben einem markanten Zeitdokument ist "Der Müll, die Stadt, der und der Tod" ein Theatertext, der sich auf eigenwillige Weise" mit der Produktion von Begehren im Kapitalismus auseinandersetzt. Der wutschäumend und melancholisch zugleich zeigt, wie die Sphäre des Kaufens und Verkaufens alle Lebensbereiche durchdringt.

Forsythe stellt neue Spielzeit für Ballett und TAT-Theater vor
Frankfurt/Main (ddp). Der Frankfurter Choreograph und Intendant William Forsythe stellt am Donnerstag seine Pläne für das Ballett und das experimentelle Sprechtheater TAT vor. Inmitten der international und heftig geführten Debatte um ein mögliches Ende beider Häuser als selbstständige Sparten der Städtischen Bühnen und die Verlängerung seines eigenen Vertrages, werden von Forsythe neben den Aussichten auf die neuen Spielzeiten auch organisatorische Perspektiven für das TAT und eine künstlerische Kurskorrektur erwartet.
Voraussichtlich wird Forsythe bekannt geben, dass er selbst Robert Schuster und Tom Kühnel ab 2003 in der Funktion als künstlerische Leiter ablöst. Das Programm des Sprechtheaters solle "erweitert" werden, hieß es bereits nebulös im Ballett.
Schuster und Kühnel sollen nach Forsythes Willen offenbar auch 2003 am TAT inszenieren, über entsprechende Gespräche mit den beiden über diese Frage schwieg sich Forsythe bislang allerdings aus. Im laufenden Jahr stehen offenbar noch zwei Premieren und fünf Wiederaufnahmen auf dem neuen TAT-Spielplan.

Krisenstimmung im Frankfurter TAT
Frankfurt/Main (ddp). Im Frankfurter TAT-Theater herrscht Krisenstimmung. Fast jedes Jahr wird in der Stadt am Main über die Schließung der experimentellen Bühne diskutiert, "aber so schlimm war es noch nie", sagte TAT-Sprecherin Johanna Milz am Mittwoch mit Blick auf die Debatte um ein Ende des Theaters als eigenständige Sparte der Städtischen Bühnen. Auch Intendant William Forsythe, derzeit samt seinem Ballett selbst unter heftigem Druck, lasse das TAT-Team "total in der Luft" hängen. Am Donnerstag will er seine Pläne für TAT und Ballett im Jahr 2003 präsentieren. Unterdessen formierte sich mit zehn Intendanten aus dem deutschsprachigen Raum ein prominenter Unterstützerkreis für das gefährdete Theater.
TAT-Sprecherin Milz fügte hinzu, was 2004 passiere, "ist für uns noch überhaupt nicht klar. Wir versuchen jetzt zu retten, was noch zu retten ist, aber es sieht nicht gut aus." In einem offenen Brief an den Frankfurter Kulturdezernenten Hans-Bernhard Nordhoff (SPD) hatte der Intendant der Salzburger Festspiele und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Jürgen Flimm, zuvor gemeinsam mit neun Kollegen aus ganz Deutschland und der Schweiz gegen die Pläne protestiert, das experimentelle Sprechtheater als Bühnensparte abzuschaffen. Mit einem "Theatertod" werde womöglich ein "fatales Signal" für eine "Welle von Theaterschließungen" gesetzt, warnten die Intendanten.
Das TAT gehöre trotz seines "bescheidenen künstlerischen Etats" zum Kreis der überregional beachteten Bühnen, unterstreichen die Intendanten in ihrem Schreiben. In einer Stadt, die "kulturell nur schwach nach außen strahlt", sei die positive Entwicklung des TAT in den vergangenen Jahren "eine schöne Leistung". Das "hoffnungsvolle Signal einer 25-prozentigen Etaterhöhung in diesem Jahr sollten Sie, Herr Dr. Nordhoff jetzt nicht Lügen strafen", heißt es in dem Appell, den Nordhoff nicht kommentieren wollte.
Zu den Unterzeichnern zählen Christoph Marthaler vom Züricher Schauspiel, sein Bochumer Kollege Matthias Hartmann, Thomas Ostermeier aus Berlin, Elisabeth Schweeger aus Frankfurt, Wilfried Schulz vom Schauspiel in Hannover, der Baseler Intendant Michael Schindhelm, Frank Baumbauer aus München und Tom Stromberg aus Hamburg.
Forsythe, so wird erwartet, wird am Donnerstag ankündigen, dass er Robert Schuster und Tom Kühnel ab 2003 die Funktion der künstlerischen Leitung des TAT entzieht und sie selbst übernimmt. Er wolle allerdings weiter mit den beiden zusammen arbeiten, heißt es. Über den Inhalt entsprechender Gespräche mit den Regisseuren schwieg sich Forsythe bislang jedoch aus.
Das TAT steht angesichts der Haushaltskrise der Stadt für einige Kommunalpolitiker ebenso wie das Ballett zur Disposition. Pläne, das Avantgarde-Ballett als auch das TAT zu Gastspielbetrieben umzufunktionieren und den Vertrag mit Forsythe nicht über die Spielzeit 2003/2004 hinaus zu verlängern, hatten Ende vergangener Woche bereits einen internationalen Proteststurm ausgelöst.

"Mit Aktion 18" gegen Möllemann - Schlingensief macht in NRW mobil
Köln (ddp). Mit einem so genannten Straßenwahlkampf wird sich Theaterregisseur Christoph Schlingensief an dem Festival "Theater der Welt" vom 21. bis 30. Juni beteiligen. Mit seinem Programm "Aktion 18" wolle er sich kurzfristig in den "optimistischen und originellen FDP-Bundestagswahlkampf" einschalten, sagte der Programmdirektor des Festivals, Matthias Lilienthal, am Mittwoch in Köln.
Anlässlich der Eröffnung wird Schlingensief in einem "Möllemobil" zu einer "Aufklärungsreise" durch das Rheinland und das Ruhrgebiet starten. Außerdem wird er im Duisburger Theater auftreten. In Anlehnung unter anderem an Joseph Beuys\' Einsatz für eine kunstvolle Demokratie werde er zudem rund um die Düsseldorfer Kunstakademie 7000 Patronenhülsen vergraben.
Das Festival "Theater der Welt" soll die internationale Aufmerksamkeit auf die Rhein-Ruhr-Region lenken. 35 Gastspiele von Ensembles aus 20 Ländern präsentiert das Internationale Theaterinstitut (ITI) in Bonn, Duisburg, Düsseldorf und Köln. Neben Uraufführungen sind Tanz-Performances sowie Musiktheater- und Multimedia-Darbietungen geplant.
(Internet: www.theaterderwelt.de)