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Das Theater Grosny in Berlin

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Das Tschetschenische Dramatische Theater Grosny ist ein Theater ohne Spielstätte. 1999 ist das Theatergebäude in der tschetschenischen Hauptstadt vollständig zerstört worden. Jetzt gastiert es in Berlin.

Berlin (ddp-bln). "Solange sie singen und tanzen, sind sie nicht besiegt." Dschingis Khan soll das gesagt haben, nachdem er die Tschetschenen unterworfen hatte, was diese offenbar nicht vom Fröhlichsein abhielt. Dschingis Khans Entscheidung: Statt den Tschetschenen die Lebensfreude zu verbieten, ging er lieber selbst.

Mit dieser nicht weiter ausgeführten historischen Parabel hat am Dienstag ein Gastspiel des Tschetschenischen Dramatischen Theaters Grosny in Berlin begonnen. Das Publikum im Gorki-Studio sah eine Veranstaltung, die geeignet war, eine ganze Palette von Fragen aufzuwerfen. Die Produktion verbindet "Bluthochzeit" von Garcia Lorca mit tschetschenischen Liedern und Tänzen.

Das Tschetschenische Dramatische Theater Grosny ist ein Theater ohne Spielstätte, es trägt den Namen einer Geisterstadt. 1999 ist das Theatergebäude in der tschetschenischen Hauptstadt vollständig zerstört worden. Zuvor hatte ein erster Treffer bereits nur einen eingeschränkten Spielbetrieb zugelassen, dann war endgültig Schluss. Die zuvor nicht nur in Tschetschenien verehrten sowjetischen Staatsschauspieler fanden sich in diversen Flüchtlingslagern wieder. Dort treten sie in Zelten auf, als Missionare der Kultur und Beschwörer tschetschenischer Gemeinschaftsgefühle. Theater habe in Tschetschenien eine ganz andere Funktion und Bedeutung als hierzulande, es sei Gottesdienst und kathartisches Ritual in einem, sagte der Initiator des Gastspiels, Peter Krüger, der Nachrichtenagentur ddp. Was an Dschingis Khans Beobachtungen erinnert.

Der Berliner Abend besteht aus zwei Teilen: Im ersten wird eine Art tschetschenischer Ethnopop ins Mikrofon gehaucht - mit viel Hall, was gut zum Bühnenhintergrund, einer Berglandschaft, passt. Dazu schreiten drei farbenfroh kostümierte Tänzerinnen grazil über die Bühne. Ein Bezug dieser Folklorenummern zur tschetschenischen oder zu irgendeiner anderen Wirklichkeit lässt sich kaum herstellen. Die anschließende szenische Gestaltung von "Bluthochzeit" (in tschetschenischer Sprache mit deutscher Einführung in den Handlungszusammenhang) geriet ebenfalls zum Ausdruck des Zwiespalts zwischen Tradition, etwa den Hochzeitstänzen, und Wirklichkeit, hier in Form todbringender Liebesgefühle und erstarrter Sozialstrukturen. Die Braut, die eigentlich einen anderen liebt, tanzt so gefällig und artig im Kreise ihrer Freundinnen, dass ein Ausbruch von Leidenschaft schlechterdings unmöglich scheint. Erst wenn, nachdem das Stück vorbei ist, das Ensemble noch einmal aus dem Stegreif einen tschetschenischen Tanz hinlegt, ist etwas spürbar, was über den Rahmen der Konventionen hinausgeht. Freundlicher Applaus.

Jens Bienioschek