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Theater und Wirklichkeit - Köhler eröffnet mit «Werktreue»-Debatte das Theaterjahr - Finanzielle Sorgen und «Nibelungen» mit Comedy
Berlin (ddp). Das Theaterjahr 2005 begann mit einem Paukenschlag:
der neue Bundespräsident Horst Köhler meldete sich zu Wort und forderte mehr Werktreue an deutschen Bühnen. In einer Feierstunde zum 200. Todestag Friedrich Schillers sagte er, das Entstauben und Problematisieren klassischer Stücke erscheine ihm «wie der Ausweis einer neuen arroganten Spießigkeit». Unter den Theaterleuten brach heftigster Protest los. Sie warfen Köhler vor, er wolle das deutsche Theater ins Museum verbannen. Und mit Kunst habe seine Theatersicht sowieso nichts zu tun. Die Debatte um das Regietheater war also wieder einmal eröffnet.
Dass die Auffassung Köhlers mit der Wirklichkeit des deutschen Theaters tatsächlich wenig zu tun hat, zeigte im Mai das Treffen in Berlin, das alljährliche Branchentreffen der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des Jahres. Zu großen Erfolgen bei Publikum und Kritik wurden eine Rock- und Rap-Version von Shakespeares «Othello» in der Inszenierung von Stefan Pucher und das deutsche Nationalepos schlechthin, Friedrich Hebbels «Nibelungen» in der Interpretation von Andreas Kriegenburg. Darin erzählt der Regisseur den ideologisch kontaminierten Stoff als eine deutsche Familiengeschichte mit befreienden Kalauern, Sondereinlagen und Gags und gewinnt mit allen drei Teilen in sechs Stunden auf ganzer Linie.
Zum «Schauspieler des Jahres» kürte die Fachzeitschrift «Theater heute» Ulrich Matthes. Der 46-Jährige wurde für seine furiose Rolle in Edward Albees Ehedrama »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« geehrt - inszeniert von Jürgen Gosch am Deutschen Theater Berlin. Als »Schauspielerin des Jahres« wurde Wiebke Puls für ihre imposante Kriemhild in Kriegenburgs «Nibelungen« an den Münchner Kammerspielen geehrt. Wie immer wurde auch das «Ärgernis des Jahres» verkündet: 2005 war das die Forderung des Bundespräsidenten nach mehr Werktreue.
Gleich vier Bühnen teilen sich 2005 die Ehre als »Bestes Theater des Jahres«: Deutsches Theater Berlin, Münchner Kammerspiele, Deutsches Schauspielhaus Hamburg - und als große Überraschung die Neue Bühne Senftenberg in Brandenburg. Nach seiner Umstrukturierung hat sich dort das Schauspielensemble zum erfolgreichen Kinder- und Jugendtheater profiliert. »Inszenierung des Jahres« wurden gleich zwei Produktionen: Tschechows »Iwanow« von Dimiter Gotscheff an der Berliner Volksbühne und »Othello« von Pucher am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Goschs Inszenierung von Shakespeares »Macbeth» am Düsseldorfer Schauspielhaus wurde zum Skandal des Theaterjahres. Während Kritiker das bluttriefende Stück hoch lobten, verließen die Besucher reihenweise das Theater.
Angesagt waren an den Bühnen auch Stücke über Arbeitslosigkeit. In Berlin feierte Fritz Kater (alias Armin Petras) mit «3 von 5 Millionen» große Erfolge, bundesweit tat es ihm der Dramatiker Moritz Rinke mit «Cafe Umberto» gleich. In Dresden präsentierte der Regisseur Erik Gedeon «Hartz IV - Das Musical» und in Essen war der Liederabend «Die Vollbeschäftigten» zu sehen.
Doch die Sozialdramatik mit drohendem Arbeitsplatzverlust spielte sich nicht nur auf, sondern auch hinter der Bühne ab. So geriet das renommierte Theater Bremen an den Rand des finanziellen Ruins. In letzter Minute bewilligte der Senat im November dem von der Insolvenz bedrohten Vier-Sparten-Haus einen Kredit in Höhe von 4,5 Millionen Euro. Damit wurde die Liquidität für die laufende Spielzeit gesichert. Im Gegenzug werden Spar-Eigenleistungen erwartet.
In eine finanzielle wie künstlerische Krise ist die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz durch die Scheidung von Tanz und Schauspiel geraten. Sasha Waltz und Thomas Ostermeier tragen den Rosenkrieg um ihre berufliche Trennung in aller Öffentlichkeit aus - und der Ausgang wird auch 2006 das Publikum weiter begleiten.
Angelika Rausch