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Der menschliche Synthesizer - Al Jarreau wird 65

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Eigentlich gebührt ihm der Spitzname «The Voice». Doch weil der auf ewig an Frank Sinatra vergeben ist, bleibt für Al Jarreau nur «The Voice of Versatility». «Die Stimme der Vielseitigkeit» - eine etwas sperrige Umschreibung, die gleichwohl treffender nicht sein könnte.

Berlin (ddp). Denn bei Al Jarreau ist eben alles etwas komplizierter. Aus Jazz macht er Pop, aus Pop Jazz. Am Samstag wird Al Jarreau 65 Jahre alt. Doch der Rückzug aufs Altenteil scheint noch weit.

Musikalisch erlebt er zurzeit seinen zweiten Frühling. Die Krise der 90er scheint überstanden. 1992 bekam er für sein Album «Heaven and Earth» seinen fünften Grammy. Danach suchte er sein Heil in gar zu verbindlichen Popsongs: Er scattete nicht mehr durch die Oktaven, bediente professionell Genre-Stereotypen, statt mit ihnen zu spielen. Ein Wechsel der Plattenfirma wirkte wie ein Befreiungsschlag: «Accentuate the Positive», sein letztjähriges Album, markiert die Rückkehr zum «Real Book» des Jazz. Al Jarreau ist wieder da.

Geboren wurde Alwyn Lopez Jarreau am 12. März 1940 als Sohn eines Pfarrers und einer Kirchenorganistin. Ein Instrument erlernte er nie. Stattdessen studierte er in Wisconsin Psychologie und arbeitete danach als Sozialarbeiter. Abends tingelte er mit einem Jazz-Trio durch die Clubs an der Westcoast. 1965 nahm er seine erste Platte auf, die aber niemand hören mochte. Entdeckt wurde er erst im Alter von 35. Doch der Talentscout der Plattenfirma Warner wusste, welchen Diamanten er da im «Bla Bla Cafe» in Hollywood gefunden hatte: Der erste Plattenvertrag hatte die ungewöhnlich lange Laufzeit von zehn Jahren.

Von nun an ging es steil bergauf: Jarreau veröffentlichte Platten wie «Glow» und «All Fly Home» im Jahresabstand. Bereits 1977 erhielt er für «Look to the Rainbow», ein Livealbum mit der inzwischen legendären Coverversion von Dave Brubecks «Take Five», den Grammy für die beste «Jazz Performance». Die Besetzungslisten seiner Alben lesen sich seither wie das «Who is who» der Musikerelite. Seine freigeistige Improvisationskunst ist unerreicht: Wenn Al Jarreau den Mund öffnet, kommen Saxophonklänge heraus - oder Conga- und Schlagzeugsounds.

Al Jarreau ist ein lebender Synthesizer. Das mag der Grund sein, warum sein einzigartiger Gesangsstil keine Epigonen hervorgebracht hat. Einzig Helge Schneider traut sich gelegentlich, Jarreaus Scat-Kunst nachzuahmen. In einem seiner älteren Bühnenvorträge behauptet Schneider sogar, er befände sich mit Al Jarreau in einem regen Meinungsaustausch angelegentlich ehehygienischer Fragen.

Gut, dass Al Jarreau davon nichts weiß. Seine Musik kommt zwar aus dem Bauch, ab der Gürtellinie ist für ihn jedoch Schluss. Seine Konzerte preist er bis heute als saubere Unterhaltung für die ganze Familie an: «Keine unanständigen Wörter? Bei mir sind Sie richtig!»

Boris Fust
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