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Die Aufführung der Oper "Hänsel und Gretel" mit dem Zusatz "Nur für Erwachsene" im Opernhaus Erfurt polarisiert nicht nur Zuschauer, sondern auch Rezensenten. Während die Nachrichtenagentur ddp die Inszenierung als "Holzhammer gegen Gewalt" bezeichnet, versucht die AP-Rezension, Hintergründe der Aufführung zu beleuchten. Die Leistungen des Ensembles bleiben allerdings bei beiden Rezensionen außen vor...
Holzhammer gegen Gewalt - Erfurter Theater zeigt Grimms-Märchen für Erwachsene und berauscht sich an einer pädophilen OrgieErfurt (ddp-lth). «Nur für Erwachsene» hieß es am Samstagabend zur Premiere des Märchenspiels «Hänsel und Gretel» im Erfurter Theater. Regisseur Giancarlo del Monaco stellte seine ab 16 Jahren freigegebene Fassung der Humperdinck-Oper vor, zelebrierte eine pädophile Orgie und erlag dem Rausch seiner ohnmächtigen Wut. Der erwartete Skandal blieb aus, der Premierenapplaus auch.
Was tun, wenn man sich dem schwierigen Thema des Kindesmissbrauchs auf der Theaterbühne nähern will? Man kann das schmutzige Geschäft in der Verborgenheit dunkler Hinterzimmer geschehen lassen, es als unfassbar betrachten und doch seine Alltäglichkeit anklagen. Man kann das abscheuliche Verbrechen aber auch einfach darstellen. Giancarlo del Monaco hat sich für die einfache Lösung entschieden und lässt Hänsel und Gretel in seiner Inszenierung gleich mehrfach vergewaltigen, bevor die Geschwister dem Kinderschänder im Blutrausch den Garaus machen.
Den Anfang nimmt das Drama in einem Berg von Müll, in dem Hänsel und Gretel gemeinsam mit ihren Eltern hausen. Der Vater trinkt, die Mutter prostituiert sich und schlägt die Kinder. «Gott hat uns verlassen», erklärt ein buntes Graffiti den gottverlassenen Ort. Monaco möchte vom Publikum verstanden werden, das Thema ist ihm wichtig.
Klischees werden auch in den übrigen Szenen reichlich bemüht. Nicht im Wald, im Großstadtdschungel verlaufen sich die Kinder. Ein Schaufenster voll halbnackter Prostituierter steht einem Glaskasten mit lethargisch spielenden Mädchen gegenüber, darüber ein Werbeplakat mit einem glücklichen Kind. «J\'accuse» - Ich klage an - hat Monaco in großen Lettern an die Wand gemalt.
Das Hexenhaus lockt nicht mit Pfefferkuchen, sondern mit bunten Lämpchen und geschmückten Weihnachtsbäumen im Vorgarten. Sat-Schüssel und zwei mannshohe Gartenzwerge kennzeichnen das Spießeridyll. Hänsel und Gretel werden in einer Mülltonne entführt, mit Sekt und Torte betäubt, während vorm Haus nichts ahnende Schulkinder unterwegs sind. Die Gardinen in den Fenstern lassen Böses ahnen - und so kommt es dann auch.
Trotz aller Klischees, so ganz traute Monaco der Wirkung seiner Inszenierung nicht. Schon vor der Premiere schürte er vorsichtshalber den Skandal, beschimpfte die Gebrüder Grimm als «zwei ziemlich perverse Märchenerzähler» und forderte, dass besseres geschrieben werde. Fast entschuldigend schickte er seiner Inszenierung voraus, dass Theater eben aufklären und eine Diskussion mit politischen Folgen anstoßen solle.
Für Monaco freilich heißt das nicht mehr, als seine orgiastische «Hänsel und Gretel»-Fantasie mit einer in den Zuschauerraum geblendeten Klageschrift aus endlosen Statistik-Meldungen zur weltweiten Verbreitung des Kindesmissbrauchs zu beenden. Doch spätestens jetzt wird dem Publikum klar, dass millionenfaches Kinderleid zum Theaterskandal nicht taugt.
Quelle: ddp
«J\'accuse»
Erfurt (AP) Giancarlo del Monaco hat Engelbert Humperdincks Oper «Hänsel und Gretel» radikal entzaubert. Zur Premiere am Samstag im Erfurter Opernhaus erlebten die Zuschauer eine Aufführung des international bekannten Regisseurs, in deren Zentrum die sexuelle Gewalt gegen Kinder stand. Zwar erklang von der ersten bis zur letzten Note Humperdincks vor allem in der Weihnachtszeit gern gespielte Musik, doch die Handlung war aus den deutschen Wäldern der Brüder Grimm in das Dickicht der modernen Städte verlagert.
«J\' accuse!» (Ich klage an!) steht als Graffiti an der Wand eines «Eros-Centers». Grimms ohnehin grausames Märchen soll dazu dienen, die moderne Gesellschaft anzuklagen, weil sie nach Ansicht des Regisseurs nicht mit dem Krebsgeschwür des Kindesmissbrauchs fertig wird. Der Sohn des Startenors Mario del Monaco wollte mit dieser Inszenierung «Nur für Erwachsene» nach seinen Worten «die vielleicht letzte Heilige Kuh des deutschen Musiktheaters schlachten». Das Bühnenbild von Peter Sykora beförderte dieses Anliegen perfekt. Und über allem schien unsichtbar der Spruch zu hängen, den Bertolt Brecht einst in seinem Theater am Schiffbauerdamm anbringen ließ: Glotzt nicht so romantisch!
Hänsel und Gretel hungern und betteln in einem dieser gottverlassenen Slums irgendwo auf der Welt. Sie singen und tanzen im meterhoch aufgetürmten Müll der modernen Gesellschaft «Suse, liebe Suse» oder «Brüderchen, komm tanz mit mir». Humperdincks «köstlich-naive Musik» (Richard Strauss) steht im harten Kontrast zu der auf der Bühne vorgeführten grausamen Welt. Die Mutter ist eine prügelnde, kiffende Hure, der Vater ein Säufer. Die Kinder laufen davon. Sie geraten in ein Bordellviertel, in dem sich spielende Kinder hinter Schaufenstern prostituieren müssen.
Das Hexenhäuschen ist ein nettes Einfamilienhaus mit Gartenzwergen im Vorgarten und sauberen Gardinen hinter den Fenstern. Doch hinter der Fassade befindet sich die Hölle, so wie sie die Opfer des Kinderschänders Marc Dutroux erleben mussten. Hänsel und Gretel werden vergewaltigt, während im Hintergrund der Fernseher die täglichen Nachrichten ausspuckt, die noch immer jede Operninszenierung übertreffen. Die Szene ist grausam, doch nie gleitet sie ab in das, was attackiert werden soll. Immer gelingt die Balance. Auch Kritik an der Kirche wird nicht ausgespart.
Monaco traut dem Happy End der Märchenoper nicht. Nachdem die Hexe getötet wurde und der Chor singt: «Wenn die Not am höchsten steigt, Gott der Herr, die Hand uns reicht», werden bedrückende Fakten vom Kinderhilfswerk UNICEF eingeblendet: «Mit Kinderprostitution und Kinderpornografie werden weltweit jedes Jahr rund sechs Milliarden Euro umgesetzt ... Die Zahl der Kinderprostituierten in Thailand wird auf 800.000, in Indien auf 400.000, auf den Philippinen auf 100.000 beziffert ... Jedes Jahr reisen schätzungsweise 400.000 Deutsche als Sextouristen ins Ausland ... In Deutschland kommen jedes Jahr 20.000 Fälle von sexuellem Missbrauch vor Gericht.»
Das Stück ist Teil eines Doppelprojekts. Vor Weihnachten hatte das Opernhaus bereits die werkgetreue Version der Weimarer Uraufführung von 1893 gezeigt. Für die Inszenierung «Nur für Erwachsene» arbeitete das Theater mit UNICEF, der Opfer-Hilfsorganisation «Weißer Ring», dem Thüringer Justiz- und Innenministerium sowie mit Polizei und Kinderpsychologen zusammen. Dazu gab und gibt es Vorträge und Diskussionen.
Quelle: AP
http://www.theater-erfurt.de