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Neugierig auf die Wirklichkeit - In den deutschen Kinos boomen Dokumentarfilme - 20 Filme aktuell im Angebot
Berlin (ddp). Noch vor zehn Jahren wurden Dokumentarfilme bei deutschen Kommerzkinos als uninteressant belächelt oder gar als Kassengift geschmäht. Allenfalls ambitionierte Programmkinos wagten sich an dokumentarische Produktionen. Doch seit einigen Jahren mausern sich Dokumentarfilme etwa über Musiker, Naturschönheiten oder brisante Politthemen zunehmend als zugkräftige Programmalternative zum dominierenden Spielfilm-Potpourri.Als 1986 der Himalaya-Film «Das alte Ladakh» von Clemens Kuby herauskam und 120 000 Zuschauer anlockte, war das «ein sensationeller Erfolg für uns», erinnert sich Thomas Frickel, Chef der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm und selbst passionierter Dokumentarist. Im vorigen Jahr sahen in den hiesigen Kinos immerhin 264 000 Menschen «Sein und Haben» von Nicolas Philibert, ein sensibles Porträt einer französischen Zwergschule.
Ein Mehrfaches an Kinogängern überzeugten zuletzt der imposante Unterwasserfilm «Deep Blue» (730 000) und der faszinierende Vogelfilm «Nomaden der Lüfte» (851 000). Den aktuellen Spitzenplatz mit über 1,2 Millionen Besuchern hält Michael Moores Dokumentation «Bowling for Columbine» über waffenvernarrte Amerikaner. Knapp dahinter folgt Wim Wenders\' Musikfilm «Buena Vista Social Club», der seit 1999 gut eine Million Besucher in die deutschen Kinos brachte und dank seinem Welterfolg die neue Doku-Welle mitbegründete.
Das breite Interesse am Dokumentarischen manifestiert sich aber nicht nur in Publikumsrennern, sondern auch in der Breite des Angebots. Fast 20 Dokumentationen laufen nach Angaben des Infodienstes www.blickpunktfilm.de derzeit in den hiesigen Kinos oder starten in den nächsten Wochen wie die Blues-Musik-Doku «Lightning in a Bottle» oder die Zirkusartistenchronik «Die Thuranos» (beide am 5. August).
Auf breite Resonanz stößt auch Michael Moores neuer Film «Fahrenheit 9/11», ein polemisches Anti-Bush-Politpamphlet, das im Präsidentschaftswahlkampf in den USA den sensationellen Sprung über die magische Grenze von 100 Millionen Dollar Kasseneinspiel schaffte. In Deutschland erreichte der am vergangenen Donnerstag gestartete Streifen nach Angaben der zuständigen Agentur schon knapp über 190 000 Besucher.
Ein Grund für die Doku-Film-Renaissance ist nach Ansicht von Branchenkennern der Überdruss, den lärmende Fantasy-Spektakel und brutale Action-Reißer, digital erzeugte Scheinwelten und die Einfallsarmut vieler Hollywood-Spielfilme bei Teilen des Publikums erzeugen. Da erscheint vielen die Wirklichkeit viel spannender, ob nun bei Pepe Danquarts packendem Tour-de-France-Doku-Drama «Höllenfahrt» (über 100 000 Zuschauer) oder in «Super Size Me», der provokanten Filmchronik eines Selbstversuchs des Regisseurs Morgan Spurlock, der sich einen Monat lang nur von McDonald\'s-Produkten ernährte.
Dass Dokfilme im Kino erstaunliche Leistungskurven hinlegen, hängt manchmal auch mit ihrer Langläufer-Kondition zusammen. «Gewisse Filme tingeln mit kleiner Kopienzahl monate- oder jahrelang durch die Kinos», berichtet Frickel. Dies gilt nicht zuletzt für kleine Filme mit schwierigen Themen wie etwa «Elisabeth Kübler-Ross - Dem Tod ins Gesicht sehen». Stefan Haupts stilles Porträt einer Schweizer Sterbebegleiterin haben seit Juli 2003 135 000 Zuschauer gesehen - Ende offen.
Der Doku-Film-Boom hat auch die Filmförderer auf neue Ideen gebracht. Die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen hat zusammen mit dem Westdeutschen Rundfunk die langfristige Dokumentarfilmreihe «World Wide» ins Leben gerufen, die aufwändige Dokus für den internationalen Markt unterstützen soll. Die erste Förderung fiel für Doku-Verhältnisse sehr üppig aus: 475 000 Euro ging an «Windstärke acht», eine Produktion der Münchner Caligari Film über Amerika-Auswanderer im 19. Jahrhundert.
«Das hohe Interesse an Dokumentationen zeigt, dass es bei den Besuchern eine Neugierde auf das \'wahre\' Leben gibt», konstatiert Stiftungsgeschäftsführer Michael Schmid-Ospach.
Reinhard Kleber