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Hellsichtiger Blick über den Partiturrand: Karl Amadeus Hartmann. Foto: F. Timpe
Hellsichtiger Blick über den Partiturrand: Karl Amadeus Hartmann. Foto: F. Timpe
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Seismographische Erinnerung an die Zukunft

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Karl Amadeus Hartmanns erstes Streichquartett und die „Gesangsszene“
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„Was Menschen zu verschiedener Zeit in dieser Hinsicht umgetrieben hat – Kriegsängste und die Sehnsucht nach Frieden sowie das gesamte Spektrum von historischen und lebensgeschichtlichen Erfahrungen dazwischen – wird auch in Kompositionen hörbar.” Der am Institut für interkulturelle und internationale Studien der Universität Bremen lehrende Politikwissenschaftler und Friedensforscher Dieter Senghaas hat sich wiederholt mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern Frieden auch eine musikalische Kategorie sein kann, zuletzt in dem Sammelband „Vom hörbaren Frieden” (siehe die Besprechung auf Seite 4). Für die neue musikzeitung nimmt er nun Karl Amadeus Hartmanns 100. Geburtstag am 2. August zum Anlass einer auf zwei Hauptwerke des Komponisten bezogenen Reflexion.

In Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ (1983) ist der bemerkenswerte Satz zu lesen: „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen.“ Seit Jahren ist sowohl in der Wissenschaft als auch in der internationalen Politik eine intensive Suche nach solchen Regeln oder sagen wir präziser: nach Indikatoren der Früherkennung drohender Konflikteskalation zu beobachten. So wurden jüngst in dem „Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, zahlreiche Vorschläge hinsichtlich „early warning“ und vorbeugender Maßnahmen vorgetragen. In Deutschland haben sich seit den kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan in den 90ern sowohl auf staatlicher als auch nichtstaatlicher Ebene die Bemühungen um „zivile Konfliktbearbeitung“ intensiviert. In der Friedensforschung war man schon seit langem auf der Suche nach einschlägigen Indikatoren: Manche von ihnen sind ganz naheliegend, so beispielsweise die überdurchschnittliche Zunahme an Rüstungsausgaben (wie seit Jahren in den USA und neuerdings in China beobachtbar), was als „harter Indikator“ gilt.

Von besonderem Interesse allerdings sind „weiche“ Indikatoren, die Veränderungen im seelischen Haushalt einer Gesellschaft widerspiegeln, so beispielsweise eine an Häufigkeit und Intensität zunehmende pejorative Semantik über den so genannten „potenziellen Gegner“, der darüber zum manifesten Feind wird. Eine solche Verschiebung in den öffentlich einprägsamen Symbolen dokumentiert sich dann allermeist in relevanten Zeugnissen der Elitekultur als auch auf Massenbasis. Wird man auch in den Künsten, insbesondere in der Musik in dieser Hinsicht fündig?

Eine relativ leicht zu bewältigende Aufgabe wäre es, Kompositionen, die der musikalischen Aufrüstung dienen sollten, zusammenzutragen. Ebenfalls fiele es nicht schwer, Musik mit gegenteiliger, also antimilitaristischer Stoßrichtung als Indiz für einen sich entwickelnden oder schon real existierenden Militarismus zu interpretieren. Aber gibt es auch, ganz im Sinne von Christa Wolfs Diktum, Kompositionen, die auf subtile Weise den frühen Beginn eines Vorkriegs, nicht also erst des Krieges, anzeigen? Gibt es vielleicht sogar Komponisten oder Komponistinnen, in deren Lebenswerk sich ein solches Sensorium ausdrückt?

Angekündigte Katastrophen

Es dürfte heute unbestritten sein, dass sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in dem Gesamtwerk von Gustav Mahler Katastrophen ankündigten, so insbesondere in den so genannten „Soldatenliedern“, vor allem in „Revelge“ (1899), und unmissverständlich-unüberhörbar in seiner 6. Sinfonie (1903/06). Unüberhörbar, wenngleich hinsichtlich der thematischen Zuordnung schwieriger begründbar, wird Katastrophisches in drei Marsch-Kompositionen unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges antizipiert und zum Ausdruck gebracht: im vierten Satz („marcia funebre“) der Vier Orchesterstücke op. 12 von Béla Bartók aus dem Jahre 1912, im vierten Satz („marcia funebre“) der Sechs Stücke für Orchester op. 6 (1910/13) von Anton Webern, im dritten Satz („Marsch“) der Drei Orchesterstücke op. 6 (1914) von Alban Berg – sowie ein Vierteljahrhundert später dann im zweiten Satz („molto adagio“) des Divertimento für Streichorchester von Béla Bartók aus dem Jahre 1939: zwei Wochen nach Beendigung dieser Komposition begann der Zweite Weltkrieg. Keineswegs plakativ oder gar propagandistisch ausgelegt und auch nicht explizit programmatisch intendiert stehen diese Kompositionen unter dem hörbaren Vorzeichen: „periculum in mora“ – Gefahr in Verzug! Was durch ihr Hörbild unmittelbar eindrucksvoll deutlich wird, ist die Tatsache, dass eine Katastrophe sich ankündigt beziehungsweise eine drohende Konflikteskalation eine Eigendynamik gewinnt, das politische Geschehen nicht mehr kontrollierbar ist und folglich die Katastrophe, wie man in der Friedensforschung formuliert, sich kataklysmisch entwickelt, sich also zu grundstürzenden Verwerfungen zuspitzt – gewissermaßen, obgleich von Menschen verursacht, zu einer Gewalt wie eine Tsunami-Flutwelle wird.

Wenn jedoch ein Komponist des 20. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang der besonderen Erwähnung und Hervorhebung bedarf, dann ist das Karl Amadeus Hartmann, über dessen frühes Werk und den ihm inhärenten prognostischen Charakter es inhaltliche Kontroversen eigentlich nicht (mehr) geben sollte.

Früh ausgeprägtes Sensorium

Als der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 mit der Invasion in Polen durch die Hitler’sche Wehrmacht begann, war Hartmann dabei, das „Concerto funebre“ zu vollenden. Diese Trauermusik des damals 34-jährigen Komponisten bündelte die thematische Stoßrichtung und die Gestik der Werke, die Hartmann mit Beginn der Nazi-Herrschaft in Deutschland ab 1933 komponierte. Wann der Weltkrieg begonnen hatte, das konnte man nun wissen, und Hartmanns „Musik der Trauer“ antizipierte dessen nicht nur für Deutschland, sondern für die Menschheit katastrophales Ende. Doch der Vorkrieg (ganz im Sinne von Christa Wolfs Aussage) begann für Hartmann mit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933. Hartmann reagierte auf dieses Ereignis mit seinem 1. Streichquartett (1933/34), mit einer sinfonischen Dichtung für Orchester „Miserae“ (1934), des weiteren mit der Oper „Des Simplicius Simplicissimus Jugend“ (1934/35), mit einer Kantate „Lamento“ (1935/36) nach Worten von Walt Whitman sowie mit einer Komposition nach Texten von Andreas Gryphius „Friede Anno ’48“, deren erster Satz „Krieg“ und deren letzter Satz „Friede“ betitelt sind. Wenn in den 1960er-Jahren Alexander und Margarete Mitscherlich im Hinblick auf die bis dahin ausgebliebene Auseinandersetzung der deutschen Elite und Bevölkerung mit der Barbarei der 1930er- und 1940er-Jahre bei ihren Mitbürgern eine (so der Buchtitel 1967) „Unfähigkeit zu trauern“ diagnostiziert hatten, so könnte man im Hinblick auf das frühe kompositorische Schaffen von Karl Amadeus Hartmann geradezu die gegenteilige These formulieren: Ausdrucksstark dokumentiert sein Werk die Fähigkeit zu trauern. Und diese Trauerarbeit beginnt eben nicht 1945 angesichts der eingetretenen und allseits unübersehbaren Katastrophe, sondern schon 1933. Hartmann war damals 28-jährig!

In den späten 1920er-Jahren galt er, jung an Jahren und kompositorisch draufgängerisch, als ein enfant terrible der Münchener Musikszene. Als er 1933/34 sein 1. Streichquartett vorlegte, kam diese Komposition einer tiefen Zäsur im Schaffen des jungen Künstlers gleich. Sie enthält im übrigen schon alle wesentlichen Elemente seiner darauffolgenden und auch der späten Kompositionen: den Trauergestus, die Niedergedrücktheit, Seufzerfiguren, gleichzeitig aber auch unerwartete Erregungen, Explosionen, scharfe Akzentuierungen – und dazwischengeschoben gelegentliche verhaltene Lichtblicke. Dieses 1. Streichquartett von 1933 ist somit das Dokument einer Trauerarbeit ex ante, eine Ausdrucksmusik im besten Sinne des Begriffes. Diese wie auch die unmittelbar folgenden Kompositionen mit einem Höhepunkt im zitierten „Concerto funebre“ machen deutlich, dass Hartmann – man muss es wiederholen: 28/29-jährig – ein früh ausgeprägtes Sensorium für den beispiellosen, sich abzeichnenden Zivilisationsbruch hatte. Wenn Hans Werner Henze einmal in einer Laudatio auf Hartmann sagte, dass die Niederschrift der Komposition für Hartmann etwas von subversiven Handlungen gehabt habe: „wie das Verfassen von Flugblättern oder das Abhalten unerlaubter Versammlungen“, dann gilt dies auch schon für diese früheste, von politischem Atem durchseelte Komposition. Schon in ihrem ersten Satz wird, wenngleich chiffriert, verbotene jüdische Musik zitiert, so wie dies später in anderen Werken mehrfach der Fall war. Zitiert werden in den frühen Werken auch Komponisten wie Bartók, Kodály, Strawinsky und andere, deren Musik hierzulande als so genannte „entartete Kunst“ verfehmt war. Glücklicherweise waren die nationalsozialistischen Kulturfunktionäre zu dumm, um diese Art der Subversion, so auch die vielfachen Zitate von Liedern der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung zu erkennen.

Prognostischer Charakter

Für Karl Amadeus Hartmann war Trauerarbeit allerdings nicht nur Klage, sondern eben auch Anklage. Und obgleich schon in diesem 1. Streichquartett (wie in den späteren Werken) Hoffnungslosigkeit unüberhörbar ist, wird diese ebenso unüberhörbar durch Aufbegehren, Protest, ja Wut konterkariert. Alles ist schon hörbar hier: die harten Schnitte, die schroffen Kontraste, die polaren Kräfte, die die dramatische Gestik der Hartmann’schen Werke auszeichnen werden. Es ist, wie einmal Hanns-Werner Heister formulierte, „leidenschaftliche Trauer“, die in dieser Musik zum Ausdruck kommt.

Mit 1933 hatte für Hartmann der Vorkrieg begonnen. Neben anderen Werken (so insbesondere der „Klaviersonate 27. April 1945“) wurde 1945/46 sein 2. Streichquartett zu einem markanten Dokument einer Trauerarbeit ex post, die später auch andere Komponisten wie Hindemith, Schönberg, B. Britten, Penderecki, Nono, I. Yun in berühmt gewordenen Werken zum Ausdruck brachten. Aber ist es ein Zufall, dass Hartmanns letztes, fast vollendetes Werk, die „Gesangsszene“ für Bariton und Orchester zu Worten aus „Sodom und Gomorrha“ von Jean Giraudoux (1962/63), wiederum von geradezu prognostischem Charakter ist, wenn in dieser Komposition die ökologische Katastrophe, in die die Menschheit sich immer mehr hineinmanövriert, mit wiederum dramatischem Gestus zum Ausdruck kam, – und dies lange ehe die Problematik öffentlich bewusst und das Thema politisch hoffähig wurde?

Anders als in den unbeschrifteten Werken artikuliert sich Hartmann hier auch auf sprachlicher Ebene ganz kongenial zu seinem Kompositionsstil: mit unnachsichtiger Kritik an politischen Wahnvorstellungen, mit subtilem Sinn für die Dialektik der Aufklärung. Der Traum der Menschheit von einem grenzenlosen technologischen Fortschritt schlage auf einem unwirtlich werdenden Planeten in den „Krieg aller Kriege“, in Selbstzerstörung, um: „Und die Schwalben fliegen hoch, weil die Erde heute ein Kadaver ist und alles, was Flügel hat, aus ihrer Nähe flieht.“

Hartmann, der immer politisch sensible, humanistisch inspirierte Zeitdiagnostiker mit geradewegs seismographischen Fähigkeiten, blickte kurz vor seinem allzu frühen Tod (1963) in apokalyptische Abgründe – in dieser letzten Komposition allerdings ohne Aussicht auf einen Frieden mit der Natur und damit auch ohne Aussicht auf Frieden unter den Menschen: „In jedes Vogellied hat ein grauenhafter Ton sich eingeschlichen, ein einziger nur, doch der tiefste Ton aller Oktaven – der des Todes.“ Und dennoch, Hartmann hinterließ auch diesen Satz: „Hält man der Welt den Spiegel vor, so dass sie ihr grässliches Gesicht erkennt, wird sie sich eines besseren besinnen.“ Wird sie das wirklich?

Die zu Beginn zitierten Werke von vor 1914 und insbesondere Hartmanns Werk provozieren die ganz naheliegende Frage: Welches sind heute die Kompositionen vergleichbar seismographischer Qualität; wer die Komponisten und Komponistinnen, deren Werk schon in der Gegenwart Zukunft erinnern lässt? Spurensuche ist angesagt.

Siehe auch: Utopien eines messianischen Zustands
Ein Aufsatzband auf der Suche nach friedfertiger Musik

 

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