Eine private Rückschau, gut 40 Jahre zurück, die vielleicht gar keine private ist. In der Provinz fernab von fast allem zeitgenössischen Musikgeschehen (bei mir war es nahe der tschechischen Grenze in ländlicher, oberfränkischer Umgebung) war man weitgehend abgeschnitten. Der Musikinteressierte hörte von Geschehnissen, die das Publikum empörten und die die Hüter der „guten alten“ Werte auf den Plan riefen. Der Rundfunk bot freilich manches, zwar versteckt, in Bayern geschah es am Montag spätabends zwischen 23 und 24 Uhr, aber immerhin. Hier waren die merkwürdig aufrührerischen Klänge zu hören, die die Gemüter erhitzten. Und man bekam kurze und schlüssige Anmerkungen zu dem Wie und dem Wollen dieser Komponisten. Dass Ulrich Dibelius damals der Redakteur war, der diese Wochenstunde fürsorglich betreute, erfuhr man freilich allenfalls am Rande. Doch man wurde an der Hand genommen, vieles erschloss sich auf einmal als ebenso notwendiger wie spannender Eingriff in unser von der unseligen Geschichte verhärtetes Musikdenken. Und dann gab es auf einmal ein Buch: „Moderne Musik 1945–1965“, erschienen 1966. Der Autor war der 1924 in Heidelberg geborene Musikschriftsteller Ulrich Dibelius.
Auf viele wirkte es wie ein Befreiungsschlag. Denn Dibelius verstand es wie kaum ein anderer, den komplexen Stoff dem Leser so klar und anschaulich, so sprachlich fein, genau und gleichzeitig tief und ohne den Gestus der Anbiederung näher zu bringen, dass sich auf einmal eine neue Welt erschloss. Sprach man damals mit Interessierten oder Gleichgesinnten, dann argumentierte man mit den Überlegungen, den Rück- und Ausblicken von Ulrich Dibelius. Hier war einer, so spürte man, der mit Liebe und zugleich mit tiefem Verständnis für die Sache der zeitgenössischen Musik kämpfte – ohne Verhärtungen, offen, ohne Dogmatik und immer zum eigenen Denken und Weiterdenken anregend. Ein Feld war geöffnet, auf dem man weiterarbeiten konnte. Die Sackgasse, die viele in der Neuen Musik erblickten, war keine mehr. Möglichkeiten für eigenes Arbeiten taten sich auf, denn das Buch von Dibelius war eines zuallererst: Es war Anstoß auf höchst profunder, genau und präzise gedachter und bestürzend klar ausformulierter Basis. Und wenn ich eingangs schrieb, dass meine Erfahrungen vielleicht gar nicht so privat waren, dann fand ich nun dafür Bestätigung. Denn viele junge Menschen, denen die Neue Musik ein Anliegen war, hatten eine ganz ähnliche Entwicklung anhand des Leitfadens von Dibelius erlebt. Staunend erfuhren wir, dass wir durch Dibelius zu einer begeistert eingeschworenen Gruppe geworden waren, ohne dass einer den anderen gekannt hätte.
Dann, nach dem Studium (das damals nach 68 ein tief aufwühlender, von den gesellschaftlichen Widersprüchen geprägter Prozess mit vielen Wegwendungen von der „reinen“ Musik war), lernte ich plötzlich beim Bayerischen Rundfunk Ulrich Dibelius (dort arbeitete er als Redakteur für Neue Musik von 1957 bis 1987) persönlich kennen. Diverse Kritiker und auch Vorkämpfer der zeitgenössischen Musik hatte man damals ja schon kennen gelernt und immer wieder nahm man auch eine gewisse Arroganz wahr, so als wüssten die Koryphäen mit dem Sicherheitsvorsprung des Sachwissens genau bescheid, wo es mit der Musik lang ging. Und da war plötzlich so ein ganz anderer Mann: bescheiden zuhörend, Argumente und auch Unsicherheiten intensiv wahrnehmend und ganz behutsam eingreifend oder korrigierend – gerade er, der doch mehr als die meisten anderen die verschiedenen Entwicklungsstränge verfolgte und kritisch begleitet hatte. Eines muss ja ein Musikkritiker vor allem anderen beherrschen: Er muss genau zuhören können. Dibelius lebte diese Eigenschaft wie kaum ein zweiter vor und er beschränkte diese Fähigkeit nicht nur auf das Hören von Musik, sondern schloss auch das Wahrnehmen von Meinungen, so diffus sie auch sein konnten, mit ein.
Vielleicht war das sogar das Wichtigste, das ich oder das wir von Dibelius lernten. Natürlich profitierten alle von seinem Wissen, seinen Erfahrungen, seinen Einschätzungen. Aber noch viel nachhaltiger war, dass vorgetragene Argumente von dem stets diskutierfreudigen, kämpferischen Geist sogleich auf Schwachstellen abgeklopft wurden, die er einem dann zum nochmaligen Überdenken zurückgab. Denn auf eines reagierte Dibelius empfindlich und seine Milde konnte dann in Schärfe umschlagen. Er mochte keine vorschnellen, keine leichtfertig getroffenen Urteile. Die aber waren damals gang und gäbe. Es war ja, auch wenn das etwas verkürzt dargestellt ist, damals in den 70ern und 80ern ziemlich einfach. Man musste nur eine musikalische Phrase hören, die irgendwo noch nach Tonalität klang, und schon stand das öffentliche Verdikt fest. Gegen solche Leichtfertigkeit des Urteils war Dibelius empfindlich, ebenso gegen das lax Formulierte, wo der dahinter stehende Gedanke mit den Worten nicht mitkam. „Warum haben Sie das so gesagt oder geschrieben“, erkundigte sich Dibelius immer wieder und brachte einen damit nicht selten in Verlegenheit. Denn man musste sich mitunter eingestehen, dass man einfach auf den Zug allgemeinen Urteilens aufgesprungen war, dass man der Musik nicht intensiv zugehört hatte, sondern schnell die Schranken des Vorurteils geschlossen hatte. (Als ich ihm einmal über die Saarbrücker Uraufführung von Helmut Lachenmanns Tubakonzert „Harmonica“ im Jahr 1983 berichtete – Dibelius war ausnahmsweise einmal nicht vor Ort gewesen – und anmerkte, dass es sich wohl um einen schwächeren Lachenmann handele, mahnte er nur: „Urteilen Sie niemals so vorschnell!“ Dieser Rat blieb mir immer im Gedächtnis, denn unwillkürlich fühlte ich mich ertappt.) Und die Sprache von Dibelius bei seinen Beurteilungen zeigte auf, wie schön, wie intensiv eine musikalische Einschätzung in Worte zu fassen sein kann. Hierin war er Meister. Und er akzeptierte durchaus auch von seiner Meinung abweichende Beurteilungen, wenn man nur mit fundierten Beobachtungen aufwarten konnte. Tat man dies, dann schlossen sich nicht selten die anregendsten Diskussionen und Erörterungen an. Denn das liebte Dibelius: die streitbare, in die Tiefe gehende Auseinandersetzung, nicht um mit der eigenen Meinung Recht zu behalten, sondern um die Sache durch unterschiedliche Blickwinkel oder Perspektiven zu bereichern.
Ulrich Dibelius war eigentlich überall vor Ort an den Stätten, wo es um Neue Musik ging – über viele Jahrzehnte war er hier gleichsam feste und unverzichtbare Größe. Eines stellte sich dabei bei ihm nie ein: die Verurteilung neuer kompositorischer Ansätze, auch wenn sie seinen Vorstellungen von dem Gang der Musik und ihrer Ästhetik vielleicht widersprachen. Bei vielen kritischen Beobachtern des zeitgenössischen Musiklebens, auch bei vielen Interpreten musste man diese Verhärtung gegenüber dem ganz Anderen beobachten. Diese Alterseinschränkung ließ Dibelius für sich nicht zu. Wohl hatte er das uneingeschränkte Vertrauen in die Jugend mit ihren Aufbrüchen wie auch den (notwendigen) Irrwegen bei seinem väterlichen Freund Karl Amadeus Hartmann gelernt. Das Neue hat das nirgendwo zu beschneidende Recht auf den Gang ins Unbekannte. Nur das unsauber oder nicht konsequent Gedachte war, genauso wie in der musikalischen Kritik, zu hinterfragen oder anzumahnen. Und sah er ein, dass die Überlegungen der Jugend nicht mehr in sein Wertesystem einzuordnen waren, dann beobachtete er sie im Stillen und hielt sich mit abschätzigen Bemerkungen zurück. Eine solche Haltung aber beweist ebenso Mut gegenüber sich selbst als auch Bescheidenheit. Dibelius gab hierfür immer ein hervorragendes Beispiel. Verständniswege hin zum Neuen zu suchen und das Schaffen aus diesem Verständnis heraus kritisch fördernd zu begleiten, war ihm zeitlebens oberstes Anliegen.
Aus diesem Geiste heraus entstanden auch seine Bücher. Dem Buch „Moderne Musik 1945–1965“ ließ er zwanzig Jahre später einen zweiten Band folgen, der schließlich noch bis in die 90er-Jahre hinein ergänzt wurde. „Den folgenden Band müssen andere schreiben“, meinte er lächelnd, als man vor wenigen Jahren bei ihm um eine Fortsetzung ansuchte. Mit dem Blick aufs Wesentliche, auf das innige Verständnis sind denn auch seine Bücher über den nur ein Jahr älteren Komponisten und Freund György Ligeti (1994) oder sein Buch über den väterlichen Freund Karl Amadeus Hartmann (2004) entstanden. Doch auch zu Mozart, Schubert und (als Herausgeber) zu Schönberg oder zu musiksoziologischen Fragen („Musik auf der Fluch vor sich selbst“, „Verwaltete Musik“ und „Neue Musik im geteilten Deutschland“) und zu vielen weiteren Aspekten hat Dibelius tiefgehende Überlegungen angestellt. Auch unserer Zeitung, der nmz, war Dibelius über viele Jahrzehnte freundlicher und kritischer Ratgeber, und bei der Spezial-Zeitschrift „MusikTexte“ fungierte er von Beginn an als Herausgeber.
Dieses gewaltige Lebenswerk entstand stets auf der Basis, dass Musik immer im Dienste an der geistigen Entwicklung des Menschen steht und stehen muss. Dibelius war Freund in umfassendem Sinne – und er war bis zum Schluss Streiter für die Sache. Und als er vor drei Jahren mitteilte, dass er in den kommenden Jahren nicht mehr nach Donaueschingen zu den Musiktagen komme, die er über vierzig Jahre begleitet hatte, da wusste man betrübt: Er hatte für sich seinen Kreis ausgeschritten. Man begegnete ihm weniger und vermisste ihn umso mehr.
Ulrich Dibelius starb am 27. April 2008. Die Neue Musik wird ihren steinigen Weg weiter gehen. Aber ihre Schritte werden etwas andere sein, da ihr ein kundiger Gefährte fehlt.