Hätte Molière den Rohde gekannt, die Welt wäre wohl um eine seiner grandiosesten Charakterkomödien reicher. Warum fällt mir eigentlich fast immer Rohde ein, wenn ich mit Fragen zu existenziellen Randlagen, zu gesellschaftlichen Wesensbestimmungen konfrontiert werde? Ich lese Beckett und denke an Rohde, ich lese Kafka oder Cervantes, das gleiche Phänomen stellt sich ein. Ich lese Meister Eckharts „Vom Nutzen des Lassens“, Rohde liefert das Bild. Beim Steirischen Herbst, zehn Jahre mögen es her sein, sprach der Philosoph Vilem Flusser von der gegenwärtigen Notwendigkeit eines nomadologischen Bewusstseins. Ich hörte das – und dachte an Rohde. Denn Rohde ist einer der letzten Nomaden – oder einer der ersten modernen. Stets unerreichbar.
Wirklich lebt Rohde einem etwas vor, das wir alle nicht haben. Es ist eine Form der Ungebundenheit, eine der saubersten sogar. Denn sie wurde nicht als Erbe in den Schoß gelegt, sie wurde erarbeitet, besser abgefahren in unzähligen Umrundungen Mitteleuropas – weiter kam Rohde nicht, weiter wollte er nicht. Jeder Nomade hat sein Revier, seinen Horizont, was sich dahinter abspielt ist für ihn von geringem Interesse. Das Revier von Rohde erstreckt sich von Amsterdam nach Budapest, von Paris über Nizza ins nördliche Italien und dann über Graz nach Wien. Die FAZ in Frankfurt, das Häuschen von Charlotte Oswald in Wiesbaden sind wie bei einem Spinnennetz innere Knotenpunkte. Wie ein fliegender Kundschafter ist er mal hier mal dort, er weiß um Versorgungsstellen, was für einen Journalisten seiner Couleur auch eine Schreibmaschine, neuerdings ein Computer, ein Faxgerät, ein E-Mail-Anschluss sein kann (er selbst besitzt solchen Ballast nicht). Nebst solchem ununterbrochenen Unterwegs-Sein hat jeder Nomade auch seine saisonalen Ruhe- oder Haltepunkte, seine üppigeren Weideplätze, die kürzeres Verweilen erlauben. Dort kann man ihn verlässlich antreffen: Wien modern, Witten, Bad Ischl, Aix en Provence, im Sommer Salzburg, Donaueschingen. Das ist wie bei festen Rastplätzen von Zugvögeln. Wer Rohde eine Schlinge legen möchte, der müsste sie termingerecht an diesen Orten auslegen. In Salzburg gar kamen Formen von Sesshaftigkeit auf, wo das Platzrecht auch mit Zähnen und Klauen gegen die nachdrängende Jungjournaille verteidigt wurde.
Wer nicht sesshaft ist, hat auch keine Nachbarn – mithin keine bösen. Also kann der Nicht-Sesshafte in Frieden leben. Das geht partiell mit Einsamkeit einher, die aber nicht schwer wiegt. Trost mag der Dichterspruch sein, dass alles Große einsam ist, aber Rohde will, dazu ist er zu sehr Kritiker aus Fleisch und Blut, gar keinen Trost. Und so ist es ihm liebes Spiel in aufkommender Runde, vor allem, wenn ihn ein beflissen emporkommgeiler Kritikereleve um das Maul redet, haarsträubende Thesen unters Volk zu streuen. Je nach Runde wechseln sie von scharf rechts nach scharf links, von terroristischen Parolen zu frauenfeindlichen Zwischenwürfen. Der Ton ist sicher gewählt: und zwar so, dass er unter den Versammelten Empörung hervorrufen muss. Die daraus entstehenden Spiegelgefechte genießt Rohde wie ein Wannenbad. Für jede Position hat er eine These, einen Dichterspruch parat und immer bewunderte ich sein abrufbares lexikalisches Zitatwissen, dem gegenüber sich fast jeder als schon von Alzheimer befallen wähnt. Diese Übungen im Debattieren, in Streitkultur betrachtet Rohde wohl als probates Mittel zur ständigen Schärfung der eigenen Waffen, die ja auch Worte sind. Sie erhalten sich Flexibilität, Gewandtheit, Wissen um Modernismen der Streitführung. Rohde packt in den Wirtshausrunden die Keule aus, wobei er gerne und gezielt jedes Niveau unterschreitet, um in den aufgebrachten Wallungen sein Stilett filigraner Argumentation immer wieder neu einzujustieren. Und wenn gackernd rotköpfige Hühner von der Journalistenschule oder erlesen zugeknöpfte Musterzüchtungen aus dem Kultur-Managementlehrgang in der Hitze des Gefechts jegliche Beherrschung fahren lassen, dann verbucht Rohde das mit klammheimlicher Freude als Erfolg. Es sind die Skalps seines indianisch nomadischen, seines anarchisch freien Bewusstseins.
Das mag ich am liebsten: Wenn Rohde mir in irgend einer Randkneipe, die unsere kulturellen Klone nie besuchen würden, von solchen Erfolgen erzählt. Denn auch erzählen kann er wie kaum ein Zweiter. Er holt weit aus und bleibt dennoch am Punkt. Und noch eines. Diese Formen von Kulturkritik sind fern von miesepetriger Galligkeit, fern von moralinsaurem Sendeauftrag. Sie sind einfach Lust, für den Kritiker Rohde wie für den Zuhörenden. Lust dann doch wieder nicht ganz einfach, denn sie geht in die Tiefe. Denn verwaschen ungenau, das ist nicht Rohdes Sache.
Schon lange denke ich immer wieder über Rohde nach. Und ich komme zu dem Schluss, dass er die Art, wie Kulturkritik zu sein hätte, bewusst oder unbewusst (oder in einer Mischung daraus) zur eigenen Lebensmaxime machte. So sehr, dass ihm hier kaum einer nachzufolgen vermag. Denn er gibt alles an Bindungen auf, lässt sich nirgendwo festlegen. Als Kritiker bleibt er gleichsam auf offener See. Von dort aus erreicht er flächendeckend wie wohl kein Zweiter alle Orte, an denen sich Kultur (freilich mitteleuropäische) abspielt. Seit fast fünfzig Jahren grast (oder rohdet?) er alle Tiefen und Untiefen künstlerischen Tuns ab und hortet sie in seinem Kopf, in seinem fast unbestechlichen Erinnerungsvermögen. Von nirgendwo lässt er sich an Land ziehen, keine Institution vermochte ihn zu binden. Kulturkritik verlangt die Wendigkeit des Freibeuters, der immer im voraus weiß, wo es etwas zu holen gibt, der sich dafür unerschrocken in Gefahr stürzt. Die Ruhe des Hafens darf nicht sein, denn auch Kunst, will sie den Anspruch von Bedeutung anmelden, darf solche Häfen nicht kennen. Das ist stets ungesichert, unbequem. Und gleichermaßen unbequem hat der Kritiker sein Dasein einzurichten. Nur dann haben seine Mitteilungen, seine Urteile das Gewicht der Frische und des Lebens, wo also der Saft noch nicht raus ist. Und noch etwas lebt Rohde vor: Man kann es sich in solcher Unbequemlichkeit, wenn man sie akzeptiert, mit ihr spielt, ganz lustvoll einrichten. Behaglichkeit schimmert durch und gibt den Impuls, es irgendwie auch so zu versuchen. Denn es ist ein ehrlicher Weg. Rohdes eben. Keine Lobeshymnen darüber, denn er – wie kaum ein Zweiter zum Kulturkritiker geboren – kann gar nicht anders.