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Warum denn immer nur Beethoven spielen?

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Über die Kinder-Kompositionsklasse von David Graham in Düsseldorf
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Im Kunstunterricht steht Kreativität an erster Stelle. Kinder malen Bilder, formen Figuren. Der Musikunterricht dagegen beschränkt sich auf Notenlernen und Beethoven spielen. In Düsseldorf setzt sich ein Komponist dafür ein, daß Kinder kreative Musik machen lernen.

Ist es nicht faszinierend, daß in einem so häßlichen Raum so märchenhafte Musik gemacht wird?“ David Graham hat recht. Der große Raum, in dem der 48jährige Engländer seit dreizehn Jahren Kompositionsunterricht für Kinder gibt, ist grau und kahl. Zum Glück ist da das schwarze, hochglanzpolierte Klavier an der linken Wand. Das einzige, was auf den ersten Blick daran erinnert, daß wir uns in einer Musikschule befinden – der städtischen Clara-Schumann-Musikschule in Düsseldorf-Oberkassel. „Ohne Hindernisse keine Ideen“, lacht Graham, „in einem solchen Raum würde ich bestimmt besser komponieren als zu Hause.“ Hier allerdings komponieren seine Schüler. Heute wartet er nicht allein auf sie. Götz Berger, ein junger Gitarrenlehrer von der Städtischen Musikschule in Siegburg, möchte sich den Kompositionsunterricht von David Graham einmal ansehen. Die Idee, Kinder nicht nur stur Klavier üben, sondern auch komponieren zu lassen, fasziniert ihn. Grahams Schüler trudeln nach und nach ein, manche allein, manche zu zweit, wann und wie es ihnen gerade gefällt. Auf strenge Zeitangaben legt David Graham keinen Wert. Heute ist Katja die erste. „Hast du an deinen Klaviervariationen weiterkomponiert?“ fragt Graham die l2jährige. „Nein, dazu hatte ich diese Woche keine Zeit.“ Graham weiß, daß es Wochen gibt, in denen den Kindern neben der Schule kaum Zeit für die Musik bleibt. Dann aber rufen plötzlich Schüler bei ihm an, weil sie ihm unbedingt ihre neuesten Kompositionen am Telefon vorspielen wollen und damit nicht bis zur nächsten Stunde warten können. Die Tür geht auf. „Hallo, Ann-Kristin, habt ihr wenigstens an eurem Heine-Lied weitergemacht?“ „Ja, aber das habe ich jetzt nicht dabei. Su-Jin wollte heute aber auch noch kom- men und die Noten mitbringen.“ „O. k. Dann spiel mir doch mal dein Stück vor, Katja.“ „Üben konnte ich aber diese Woche nicht. Hatte zuviel zu tun.“ „Wie willst du denn dann am Samstag beim Konzert spielen, wenn du bis heute noch nicht geübt hast?“ Graham versucht, streng zu gucken. Statt dessen entsteht auf seinem Gesicht ein Grinsen. „Ach, bis Samstag, das ist noch so lange hin. Das schaffe ich schon“, erwidert Katja selbstbewußt. „O. k. Dann mal los.“ Das zierliche Mädchen russischer Herkunft setzt sich ans Klavier, wischt sich die Hände an der Jeans ab. Auf das rechte Pedal legt sich ein weißer Turnschuh mit Plateausohle. Katja spielt eine Sonatina in drei Sätzen – selbst komponiert. Durch die Wand hinter dem Klavier dringen Schubert-Impromptus-Klänge hindurch. Der Kontrast zu Katjas Musik ist groß. Das hier ist neue, eigene Musik. Zu ihrem zweiten Satz hat sie sich von einem russischen Gedicht inspirieren lassen. „Nichts anderes, nicht weniger wollen wir, als daß neue Musik, neue Künste geliebt, gebraucht und verstanden werden.“ Mit „wir“ meint David Graham sich und seine Schüler. Es gehört zu seinem Musikverständnis, daß er die Ideen seiner jüngsten Schüler genauso ernst nimmt wie die erwachsener Komponisten. Der englische Pädagoge ist in Stratford-upon-Avon geboren. Er hat an der Universität Reading und in Hans Werner Henzes Meisterklasse an der Kölner Musikhochschule studiert. Er selbst komponiert Kammer- und Orchestermusik, Chorstücke und Musiktheater. Außerdem schrieb er Filmmusik für Filme von Volker Schlöndorff und Bill Douglas. Seit 1986 ist der englische Komponist an der Clara-Schumann-Musikschule in Düsseldorf und hat seitdem mit seiner Kompositionsklasse über zweihundert Stücke realisiert. Darunter sind vier Opern, die Graham selbst als „Musiktheaterstücke“ bezeichnet. Weder lehrt Graham Regeln, noch verlangt er von seinen Schülern Vorkenntnisse, wenn sie seine Klasse besuchen wollen. Er möchte, daß seine Schüler Komponieren nach dem Prinzip learning by doing ausprobieren. Er regt jede und jeden an, die eigenen Ideen einfach aufzuschreiben. Am wichtigsten ist für Graham, daß die Stücke auch aufgeführt werden, denn nur beim Hören der eigenen Stücke können sich die Schüler selbst korrigieren. Inzwischen ist Tobias dazugestoßen. Um nicht zu stören, hat er sich einen Stuhl nahe der Klassentür genommen. Aufmerksam verfolgt er Katjas Spiel, seine Augen auf ihre Hände fixiert. Die Füße baumeln noch über dem Fußboden, er ist erst sieben Jahre alt. Sein Vater begleitet ihn jedesmal hierher und schaut zu. Lust als Bedingung Wenig später kommt Su-Jin dazu. Sie hat die neuen Kompositionen zu den Heine-Liedern dabei. Mit David Graham und Ann-Kristin spricht sie über die musikalischen Möglichkeiten, die Verse der Franzosen von den Versen der Deutschen abzuheben. „Wie willst du die Franzosen charakterisieren?“ fragt Graham Su-Jin. „Ich möchte irgendwie die Leichtigkeit ihrer Lebensart darstellen.“ „Im Gegensatz zur Schwerfälligkeit der Deutschen, meinst du? Gut.“ – Das ist übrigens lustig: ein englischer Lehrer charakterisiert mit einer koreanischen Schülerin die Deutschen und die Franzosen. Gefällt mir. Es klopft. Herein kommt ein kleines koreanisches Mädchen mit seiner Mutter, die rote Notentasche schützend vor den Bauch geklemmt. „Ah, du mußt Jenny sein“, begrüßt sie Graham. „Du willst also bei uns mitmachen?“ „Sie hat aber noch nie etwas geschrieben“, sagt die Mutter verlegen lächelnd. „Das macht doch gar nichts. Ein bißchen Lust mußt Du mitbringen, das ist die einzige Bedingung. Und das ist schon viel!“ ermuntert sie Graham. „Setz dich doch heute einfach zu uns und guck ein bißchen zu.“ Inzwischen sitzt der komponierende Pädagoge umringt von vier Kindern unterschiedlichsten Alters am Klavier. Jetzt spielt Tobias seine Sonate in As-Dur vor, die Graham lieber als „Phantasie und etwas“ bezeichnet. Sie endet ziemlich abrupt. „Warum hast du das Ende so komponiert?“ fragt Graham Tobias überrascht. „Ich wollte das Publikum überraschen.“ „Oh ja, das hast du allerdings. Findest du nicht, daß das zu sehr schockt? Könntest du dir nicht auch einen etwas anderen Schluß vorstellen, wie zum Beispiel so etwas?“ Graham spielt ihm einige Varianten in anderen Tonarten vor. „Doch, eigentlich schon.“ Tobias runzelt die Stirn. „Versuch doch bis zum nächsten Mal, nochmal darüber nachzudenken, o. k.?“ „Ja, aber irgendwie zieht mich ein Magnet vom As immer auf das A. Da kann ich doch nur mit A-Dur aufhören“, erwidert Tobias überzeugt. „Findest du wirklich? Du könntest doch auch vom As auf das G gehen.“ Graham spielt ihm eine Modulation vor. „Und nach F-Dur?“ fordert Tobias ihn lachend heraus. Graham moduliert nach F-Dur. „Und nach Ges-Dur?“ Der Spieltrieb des 7jährigen ist geweckt. „Und nach B-Dur?“ „Nein, nicht immer ich. Jetzt bist du mal dran.“ Graham überläßt ihm den Klavierhocker. In atemberaubender Geschwindigkeit improvisiert Tobias eine technisch äußerst anspruchsvolle Modulation, seine kleinen kräftigen Hände überwinden unmögliche Distanzen mit gelenkigen Bewegungen. Er strahlt Graham an, als er den B-Schlußakkord anschlägt. „Ich fühl’ mich echt moduliert“, lacht sein englischer Lehrer. Für Götz Berger ist Tobias ein Beispiel dafür, daß es Kinder gibt, die schon früh in ihrer kreativen musischen Fähigkeit gefördert werden wollen. Das würde der klassische Musikunterricht an den Schulen bisher leider nicht leisten. Natürlich sind Kinder wie Tobias mit perfektem Gehör und überdurchschnittlicher musikalischer Begabung nicht die Regel in einer Musikklasse. Aber „es geht nicht darum, Tausende von Genies und Berufskünstlern zu entdecken. Es geht darum, Tausende von Formen des Spielens, des persönlichen Sich-Ausdrückens vor der Entsagung zu bewahren. Das Spielerische ist dabei von entscheidender Wichtigkeit, die Lust am Musizieren...“ Das ist die Meinung des weltbekannten Komponisten Hans Werner Henze (71), mit dessen Unterstützung David Graham seine ersten Musikwerke mit Jugendlichen in Montepulciano (Italien) erarbeitet hat. Hier hat er seine ersten Erfahrungen als Kompositionspädagoge gesammelt, drei Jahre lang, bevor er nach Düsseldorf kam. Offensichtlich ist auch Henze an der Förderung jungen musikalischen Interesses gelegen. Im Sommer 1997 hat er am Nordkolleg Rendsburg einen zweiwöchigen Workshop „Komponieren in der Schule“ für Musiklehrer an Schulen und Musikschulen angeboten. Zusammen mit der Stiftung des Schleswig-Holstein Musik-Festivals hat er ein Lehrprogramm aufgestellt, das einfache Kompositionstechniken und -methoden vermittelt. „Den Musikunterricht von Grundschulkindern kreativer zu gestalten war eigentlich meine Idee“, sagt der Henze-Schüler Graham. „Aber mit Henzes Namen bekommt unsere Sache natürlich mehr Aufmerksamkeit. Das ist auch ein Vorteil.“ Der Kritiker des altmodischen Musikunterrichts kennt auch die Schattenseiten seiner Kreativität und weiß, wie wichtig einflußreiche Namen sind. „Ich bin ein Dorn im Auge der Stadt Düsseldorf, weil ich zuviel Geld ausgebe“, sagt David Graham. Mit diesem Geld meint er die alle zwei bis drei Jahre aufgeführten Produktionen der Musiktheater-stücke seiner Klasse, die etwa 150.000 Mark kosten. Aber der Musikpädagoge warnt sparende Politiker: „Für einen Komponisten sind aufgeführte Stücke realisierte Träume. Auch junge Menschen träumen. Verweigern wir ihnen die Möglichkeit, ihre Träume zu verwirklichen, sind das unbefriedigte Leute. Und die, wie wir alle wissen, machen Probleme!“ Kompositionsunterricht als Prävention jugendlicher Kriminalität? Für Götz Berger ist das gar nicht so abwegig. „Meine eigene Sprachlosigkeit gegenüber Leuten, die ausländische Kindergärten abfackeln, hat mich so erschreckt. Wo ich doch selbst als Musiklehrer täglich mit dem Medium Sprache umgehe!“ Er ist davon überzeugt, daß Graham den richtigen Weg zu einem neuen, kreativeren Musikunterricht gefunden hat. „Leider hat uns an der Musikhochschule niemand diese Art von Unterricht vermittelt“, klagt der 35jährige. Hans Werner Henzes Workshop in Rendsburg war ein Schritt in diese Richtung. Er ist aber nur für zehn Lehrer zugänglich gewesen. David Graham will sich dafür einsetzen, daß Komponieren mit Kindern ein fester Bestandteil des Musikpädagogikstudiums an deutschen Hochschulen wird.

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