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Wie die Klassik grunderneuert werden soll

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Zur Zukunft der Tonträger in einem schwierigen Bereich · Von Christian Kellersmann
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Eine Grundidee der nmz-Zukunftswerkstatt ist es, über den üblichen Kreis unserer Autoren hinaus neue Fachautoren und Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Literatur zu Wort kommen zu lassen. Christian Kellersmann ist seit März vergangenen Jahres Generalmanager von Universal Classics, unter deren Dach sich altehrwürdige Labelnamen wie Deutsche Grammophon, Philips oder Decca finden. Kellersmann, der bereits die Jazzabteilung der Universal-Vorgängerin Polygram erfolgreich leitete, soll jetzt der Klassik neue und vor allem zukunftsträchtige Absatzsmärkte erschließen. Die nmz stellt seine Ideen und Konzepte zu Diskussion.

Eine Grundidee der nmz-Zukunftswerkstatt ist es, über den üblichen Kreis unserer Autoren hinaus neue Fachautoren und Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Literatur zu Wort kommen zu lassen. Christian Kellersmann ist seit März vergangenen Jahres Generalmanager von Universal Classics, unter deren Dach sich altehrwürdige Labelnamen wie Deutsche Grammophon, Philips oder Decca finden. Kellersmann, der bereits die Jazzabteilung der Universal-Vorgängerin Polygram erfolgreich leitete, soll jetzt der Klassik neue und vor allem zukunftsträchtige Absatzsmärkte erschließen. Die nmz stellt seine Ideen und Konzepte zu Diskussion.Ende September veranstaltete die deutsche Phonoakademie in Zusammenarbeit mit den Schallplattenfirmen die Verleihung des deutschen Schallplattenpreises Klassik-Echo in Baden-Baden. Zeitversetzt wurde die Veranstaltung noch am gleichen Abend im ZDF übertragen. Die anwesenden Besucher und Kritiker zeigten sich positiv beeindruckt von der Qualität der Veranstaltung. Und auch die Zuschauer vor den Bildschirmen fühlten sich angezogen von Klassik „pur“: knapp 1,2 Millionen verfolgten die Veranstaltung – neue Bestleistung für die Klassik-Echo-Verleihung. Ein Grund zur Freude und zum Optimismus? Über die Situation der Schallplattenfirmen im klassischen Musikbereich ist in den letzten Wochen, Monaten und Jahren viel gesagt und geschrieben worden. Lange lebten die Firmen vom großen CD-Boom. Die Kataloge wurden wieder und wieder neu ausgewertet, die CDs neu ausgestattet und immer wieder zierten neue Engelchen die Cover – bei sinkenden Preisen. Nach und nach merkten jedoch die meisten Konsumenten, dass sie die Werke bereits mehrfach im CD-Schrank hatten. Und schlimmer noch für die Schallplattenfirmen: der „Nachwuchs“ blieb aus. Die Käufer klassischer Musik wurden älter und älter. Die Folge: Umsätze gingen zurück, geplante Aufnahmen wurden nicht realisiert und im schlimmsten Fall wurden gleich ganze Geschäftsbereiche fusioniert, Personal entlassen, Budgets gekürzt und Künstler fallen gelassen. Von derartigen Aktivitäten können fast alle Künstler und Mitarbeiter der großen Schallplattenfirmen in den letzten Jahren erzählen. Um die geplanten Umsätze zu erreichen, wurde und wird hochwertiges Repertoire heruntergepreist, bis der Konsument bald nur noch den Herstellungspreis bezahlt. Das Resultat: Klassik-CDs finden sich als Billigware auf den „Grabbeltischen“ von Supermarktketten – der traditionelle Schallplattenhandel, das Fachgeschäft verschwindet.

Dann gab es die seltenen kommerziellen Glücksfälle – den „Titanic“-Soundtrack, André Rieu, Andrea Bocelli, Vanessa Mae und Helmut Lotti. Ihnen verdanken die Klassikfirmen einen halbwegs akzeptablen Marktanteil, denn diese Umsätze laufen bei ihnen auf. Doch Crossover, wie dieser kommerzielle Ansatz für ein Adult-Publikum genannt wird, kann nicht die alleinige Zukunft des klassischen Tonträgers sein.

Also: was müssen wir – die Mitarbeiter der Schallplattenfirmen – tun, wie müssen wir die Zukunft gestalten, damit die klassische Musik eine Zukunft bei unseren Konzernen hat? Alle Bereiche müssen selbstkritisch hinterfragt werden.

A&R (Artist & Repertoire)

In Zusammenarbeit mit den Künstlern müssen die Produzenten aufregende, neue, ungewöhnliche Projekte wagen. Jede Produktion sollte den Anspruch haben, etwas Außergewöhnliches, Einmaliges zu sein! Produktionen einzuspielen, nur weil sie zum Repertoire und in den Lebenslauf eines Musikers gehören, macht aus Sicht der Plattenfirma keinen Sinn mehr. Es sei denn, es steht eine bahnbrechende Neuinterpretation ins Haus. Im Gegenteil: Wir müssen wagen, neue Kompositionen und Komponisten zu fördern. Und wenn das Konzept stimmt, können es auch neue alte Kompositionen sein… Cecilia Bartoli macht es immer wieder vor!

Als Major-Plattenfirma müssen wir in der Lage sein, für den Konsumenten zu produzieren. Das ist auf der einen Seite ein Glücksfall, weil es für fast jede Musik Konsumenten gibt. Auf der anderen Seite verrät uns der Blick in die Samstagabend-TV-Show oder der Knopfdruck auf das Radioprogramm, wie es um die Musiklandschaft in Deutschland bestellt ist.

Unser Kriterium muss Qualität sein. Qualität drückt sich unterschiedlich aus und hat viele Definitionen. Es gibt keine Musiker, auf die sich die ganze Welt einigen kann. Es gibt keine Kompositionen, bei der alle sagen: großartig! Wir müssen unterschiedliche Kriterien von Qualität zulassen. Wir müssen den Mut haben, neue musikalische Wege zu präsentieren – zu experimentieren.

Da können Musiker aus unterschiedlichen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen musikalischen Backgrounds zusammenkommen und spielen. So eine Aufnahme kann in die Hose gehen, es kann aber auch der Anfang einer neuen künstlerischen Richtung sein. Entscheidend sind die Qualität und die Visionen, die unsere Künstler gemeinsam mit uns, ihrer Plattenfirma entwickeln.

Wir brauchen Künstler, die Können und Persönlichkeit besitzen und für gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung stehen. Künstler müssen von ihrer Schallplattenfirma eine tatkräftige Unterstützung erhalten. Das geht aber nur, wenn eine gemeinsame Planung vorangeht, wann welches Repertoire eingespielt wird, wann es veröffentlicht wird, wann die Künstler für Promotion-Aktivitäten zur Verfügung stehen und wann es zu weiteren Aufführungen kommt. Es reicht heute eben nicht mehr, ein Werk perfekt interpretieren zu können, aber danach schweigend von dannen zu ziehen. Wir bewegen uns in einer medialen Gesellschaft – darauf muss auch die klassische Musikszene reagieren. Ausstrahlung, Image, der USP (unique selling point) sind wichtige Mittel auf dem Weg zum Publikum.

Die optische Präsentation eines Tonträgers sollte aufregend und spannend sein. Ein Blick in die Klassikregale verrät: hier sind Engel, Gemälde mit Jagdhund und bestenfalls noch ein paar alte Meister in der Überzahl. Es fehlt an visuellen Innovationen, an neuem Input und an zeitgemäßer Grafik. Wo sind die Coverfotos von Wolfgang Tilmanns, Jürgen Teller, Anton Corbijn? Wo sind Covergemälde der mittlerweile gar nicht mehr so Jungen Wilden? Wo findet das künstlerische Gipfeltreffen zwischen Musik und bildender Kunst auf heutigem Niveau statt?
Ein Cover kann aber auch einfach nur eine zeitgemäße oder auch zeitlose Optik präsentieren. Eine Stimmung transportieren. Wir versuchen das mit dem Cover zur „Yellow Lounge“-Compilation. Das „Yellow Lounge“-Logo ist eine optische Neuinterpretation des Logos der „Deutschen Grammophon“. Wir haben das Logo nachgebaut (Maße: fünf mal zwei Meter), in einen Wald gestellt und fotografiert. Das ist keine Anbiederung, sondern einfach anders.Neu.

Denn: Eine ganze Generation muss wieder an klassische Musik herangeführt werden. Die jetzige, junge Elterngeneration ist schon kaum mehr mit klassischer Musik groß geworden. Die Lehrer haben es in der Schule in den seltensten Fällen geschafft, klassische Musik aufregend und spannend zu kommunizieren. Stattdessen waren die musikalischen Themen auf allen Partys Beatles, Rolling Stones, Yes, Pink Floyd oder Peter Gabriel. Das bedeutet Basisarbeit. Diese Generation muss von klassischer Musik aufs Neue fasziniert werden. Wege gibt es viele: die emotionale, die optische, die intellektuelle, die kulturelle Heranführung – um nur einige zu nennen.

Klassik verkauft sich in erster Linie über Künstler. Je mehr Einzigartigkeit und Persönlichkeit des Künstlers zu erkennen sind, desto höhere Popularität und Aufmerksamkeit genießt er in den Medien. Zumindest in den Printmedien. Ansonsten sieht es verhältnismäßig mau aus: die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten offerieren Klassik (immerhin noch) an unattraktiven Sendeplätzen, die Privaten schließen Klassik völlig aus. Doch auch andere Medien, die man zu gewinnen hofft, funktionieren nach Mustern, in denen Klassik kaum noch existiert: so haben wir beispielsweise eine Serie mit zwölf CDs des Accord-Labels veröffentlicht, das zeitgenössische Komponisten aus Frankreich präsentiert. Sieben Monate lang schaffte es keine einzige Zeitschrift in Deutschland, auch nur eine Zeile über diese sehr außergewöhnliche Serie zu schreiben. Kritiker nutzen häufig ihren geringen Platz dafür, andere Projekte unseres Hauses zu „verreißen“, weil ihnen zum Beispiel Marketing- oder Kooperationsaktivitäten missfallen. Wie wäre es, stattdessen die unbekannte aber hoch spannende CD eines Marc-André Dalbavie attraktiv für den Leser zu präsentieren. Und was könnte man allein damit erreichen, wenn der „Spiegel“ eine Wagner-Geschichte weniger im Jahr machen und dafür einen aufstrebenden Musiker mehr porträtieren würde?

Bewusst stehen die Punkte A&R und Künstler oben in meiner Rangliste. Denn sie sind entscheidend. Gelingt es uns nicht, die richtigen Produktionen mit den richtigen Künstlern zu machen, kann das Artwork aussehen, wie es will, der Künstler noch so attraktiv abgebildet sein und noch so viel Geld für Werbung verpulvert werden – wir werden langfristig keine Erfolge feiern.

Bis zu diesem Punkt – der richtigen Produktion mit dem richtigen Künstler zum richtigen Zeitpunkt – müssen wir noch eine Klippe in unserem Musikverständnis meistern: die Überwindung der starren E- und U-Musik-Trennung! Musik hat viele Facetten, viele Funktionen, transportiert unterschiedlichste Emotionen, die von jedem Individuum einzigartig verarbeitet werden. Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen, seine eigene Interpretation, wenn er Musik hört. Es können Intellekt und Emotionen angesprochen werden. Doch nicht wir, die Schallplattenproduzenten, oder die Musik-Kritiker oder die Musikwissenschaftler legen fest, wie Musik gehört werden darf, sondern einzig und allein der Zuhörer beziehungsweise Konsument. Unsere Aufgabe als Produzenten und Vermarkter ist es, die Wünsche der Konsumenten zu erfüllen. Und da der Konsument in der Regel auch Neuem gegenüber aufgeschlossen ist, haben wir zudem die privilegierte Aufgabe und großartige Herausforderung, dieses Neue gemeinsam mit den Künstlern zu produzieren und dann zum Konsumenten zu transportieren – zu vermarkten.

In Ansätzen bewegen sich die Firmen bereits. Independent Companies haben es da häufig leichter, da sie wenige Entscheidungsträger haben. Eine Firma wie beispielsweise ECM macht seit Jahren eine außergewöhnliche Künstlerpolitik, verbunden mit einem klaren und hochwertigen optischen Auftritt. Aber auch bei den großen Firmen wird hinter den Kulissen heftig diskutiert und das ist erst der Anfang!

Änderungen wird es erstmal in Ansätzen geben. Unser Ziel ist es, klassische Musik wieder in den Mittelpunkt der Gesellschaft zu rücken. Dafür bedarf es den Input von starken Schallplattenfirmen, die Produktionen für die Ewigkeit schaffen. Wie auch immer wir sie in Zukunft verkaufen werden: als Compact Disc, Langspielplatte, übers Internet, übers Handy oder über Satellit...

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