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Zwei Ansichten der Philharmonie Essen während der Bauphase. Den Jetzt-Zustand kann man etwa beim Eröffnungsabend am 5. Juni live auf 3sat besichtigen; vom Tag danach an beim Konzertbesuch. Fotos: Philharmonie Essen
Zwei Ansichten der Philharmonie Essen während der Bauphase. Den Jetzt-Zustand kann man etwa beim Eröffnungsabend am 5. Juni live auf 3sat besichtigen; vom Tag danach an beim Konzertbesuch. Fotos: Philharmonie Essen
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Wir kommen nicht als Kulturdampfwalze daher

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Ein Gespräch zur Eröffnung der Philharmonie Essen mit dem Intendanten Michael Kaufmann
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Der Um- und Neubau des ehemaligen Saalbaus Essen ist abgeschlossen, am 5. Juni wird die neue Philharmonie in Essen feierlich eröffnet. Die Bauzeit dauerte insgesamt vom März 2002 bis Juni 2004. Der Bau ist abgeschlossen. Die erste Spielzeit ist durchgeplant. Die Mühen der Berge liegen, um mit Bert Brecht zu sprechen, hinter dem Intendanten Michael Kaufmann – vor ihm liegen die Mühen der Ebene. Die nmz traf ihn noch einmal vor der Eröffnung.

neue musikzeitung: Die Gestaltung der reichen Kulturlandschaft Ruhrgebiet erhält nun mit dem größten Konzertsaal der Region einen neuen kräftigen Impuls. Welche Erwartungen verbinden sich mit der neuen Essener Philharmonie?

Michael Kaufmann: Es gab eigentlich zwei Erwartungshaltungen. Da sind zum einen die Musikenthusiasten, die auch bereit sind, sonst wohin zu fahren, um ein bestimmtes Programm zu hören. Die haben immer wieder gefragt, ob denn auch wirklich, so wie wir es angekündigt hatten, die großen Orchester und Solisten aus aller Welt wieder nach Essen kommen.

Die andere Erwartung ist aus kulturpolitischer Sicht für die Stadt Essen bedeutsam. So hatten wir Befürchtungen entgegenzutreten, bei allem Bemühen um große nationale und internationale Künstler die Integration der regionalen Künstler zu vernachlässigen. Ich meine, dass unser Programm deutlich macht, dass beide Aspekte für uns selbstverständlich sind, dass wir beide Pole der Programmgestaltung vereint haben. Denken Sie nur an unser Schönberg-Projekt (siehe nmz vom März 2004). Hier wird sowohl das Tonhallenorchester Zürich spielen, aber natürlich auch die vier Orchester der Ruhrregion und das Schönebecker Jugendblasorchester, also eine lokale kulturelle Instanz.

: Und mit welchen Mitteln rechnen sie, um diesen Erwartungen gerecht werden zu können?

: Für unsere geplanten Veranstaltungen und die grundsätzlichen Dienstleistungen des Hauses, die ja alle Konzertveranstalter nutzen, werden wir einen Zuschussbedarf von zirka drei Millionen Euro haben. Ich bin überzeugt, dass die Entscheidung über diese Summe dazu führen wird uns in den nächsten Monaten unproduktive Diskussionen darüber zu ersparen, ob das Haus im kommerziellen Sinne nun schon erfolgreich ist. Nach so kurzer Spieldauer wären solche Diskussionen schlimm. Das Haus muss die Chance haben, sich in dem tatsächlich so reichen Kulturangebot dieser Region auch etablieren zu können.

: Zwei neue Konzerthäuser in der Region – was ist in Essen anders als in Dortmund?

: Wir haben in Essen ja von Anfang an schon eine andere Aufgabenstellung dadurch, dass hier ja nicht nur ein reiner Konzertsaal entstanden ist, sondern ein Haus mit Multifunktionalität. Damit bewegt man sich ja zwangsläufig auf Menschen zu, die nicht ausschließlich zum Kreis der Klassikbegeisterten gehören. Da braucht es natürlich auch Überlegungen, wie man harmonische Brücken bauen kann. So entstand zum Beispiel die Idee der Ausgestaltung eines Philharmonischen Balls nach dem Vorbild des Balles der Wiener Philharmoniker. Oder das Konzert mit dem Bandoneonorchester aus Essen – das ist eine ganz außergewöhnliche Geschichte: der Altersdurchschnitt der Bandoneonisten liegt bei über 70 Jahren. Hier manifestiert sich eine Tradition der Stadt. Im Dortmunder Programm zum Beispiel finden sich weniger lokale und regionale Elemente. Aber dort gibt es zum Beispiel Projekte wie „Roncalli meets classics“ oder die „Christmas-Show“ – also Veranstaltungen mit einem vorrangig kommerziellen Aspekt. Aber diese Unterschiedlichkeit ist ja gut für das Gesamtangebot der Region.

: Mit der Philharmonie Essen entstand ein regionales Projekt mit überregionalen Auswirkungen auf die Kulturlandschaft – inwieweit ist das „Modell Essen“ wiederholbar beziehungsweise übertragbar auf andere Regionen? Ist Ihrer Ansicht nach so was wie in Essen auch anderswo möglich? Etwa in Rostock oder in Meiningen?

: Zunächst mal habe ich einen für mich sehr spannenden Prozess durchlebt: die Stadt, die Region, ihr Angebot – was aus der Vogelperspektive wie ein munteres Miteinander aussieht, erweist sich oft nur als ein Nebeneinander. Das musste zunächst erkannt werden um daraus abzuleiten, was zu tun wäre. Es war zunächst eine Grundsatzentscheidung zu treffen: integriere ich die große Vielfalt, die dieser Ballungsraum aufweist oder nicht. Eine solche Entscheidung steht zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern nicht zur Debatte. Wenn ich mir aber Sachsen-Anhalt ansehe – dort gibt es ebenfalls eine große Dichte an musikalischen Institutionen.

Ein Drittel des Programms, was wir hier machen, hat ganz direkt mit meinem Umgang mit der Region zu tun. Ich bin also sicher, dass mein Programm zum Beispiel in Frankfurt oder Dresden in Teilen ein anderes wäre, als hier in Essen.

: Das Konzept der Essener Philharmonie ist in seiner Gesamtheit sehr komplex. So etwas heute noch in bereits bestehende lokale kulturpolitische Strukturen zu implementieren, ist schwierig, aber, wie das Beispiel Essen zeigt, auch möglich. Sie haben sich nicht nur um Konzepte gekümmert, sondern auch um Partner.

: Ich habe von Anfang an gesagt, dass wir uns einerseits nicht als ein Elfenbeinturm verstehen dürfen und andererseits nicht als große Kulturdampfwalze daherkommen kön-nen. Nein, wir wollten und mussten von Beginn an integrative Überlegungen anstellen. Nun muss ich aber auch vorweg schicken, dass ich in „unserer Unternehmensfamilie“ ja die Oper, das Schauspiel, das Ballett und das Orchester habe. Wenn ich also ein Projekt plane, etwa das von Uri Caine über Isadora Duncan, bei dem aber das Ballett eine Rolle spielen soll, dann kann ich zu meinem Kollegen, dem Ballettdirektor Martin Puttke gehen und mit ihm darüber sprechen. Das ist zweifellos ein komfortabler Umstand.

Wenn ich an Partnerschaften außerhalb des Hauses denke, dann ganz bestimmt an die mit der Folkwang-Hochschule in Essen. Die war zunächst nur auf dem Papier fixiert, wird aber in nächster Zeit erlebbar werden, etwa dadurch, dass HK Gruber und Uri Caine als „Artists in residence“ auch an der Hochschule Seminare geben werden. Darüber hinaus gibt es im semiprofessionellen Musikbereich in Essen Anbieter und „Spieler“, die gut zu uns passen. Das sind zum Beispiel die Erlöserkirche und das Forum Kreuzeskirche mit zwei herausragenden Chören. Und es gibt die Zeche Zollverein, die uns ein wichtiger Partner ist.

Dass in unserem Haus seit vielen Jahren die Orchester von Duisburg, Dortmund, Bochum und Essen erstmals unter einer Programmlinie spielen, ist ein gutes Beispiel für solche Partnerschaft. Am augenfälligsten wird das durch die vierjährige Kooperationsvereinbarung über alle Mahler-Sinfonien, die wir mit den Bochumer Symphonikern geschlossen haben. (nmz vom März 2004)

: Startschuss wird die offizielle Eröffnung am 5. Juni sein – welches sind die Höhepunkte der ersten Spielzeit?

: Angefangen vom Eröffnungskonzert mit Stefan Szoltesz und den Essener Philharmonikern über die konzertante Aufführung des „Fliegenden Holländers“ mit der capella coloniensis unter Bruno Weil reicht die Palette über ambitionierte Kinderkonzerte mit Kurt Weills „Zaubernacht“ bis hin zu Konzerten mit Herbie Hancock und Gilberto Gil. Höhepunkte werden zweifellos die Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle oder das Chicago Symphonie Orchestra unter Pierre Boulez sein. Unser „Schönberg-Festival“ zählt für mich ebenso dazu, auch wenn es nicht Heerscharen von Menschen anziehen wird. Das ist eben ein sehr wichtiger programmatischer Schwerpunkt.

So gesehen hat das Programm unseres Eröffnungszeitraumes beinahe schon Festivalcharakter.

Chronologie
Saalbau und Philharmonie Essen

9. Juni 1902: Grundsteinlegung für den Saalbau Essen

24. September 1904: Feierliche Eröffnung des Saalbaus und Übergabe an die städtische Verwaltung

1./2. Oktober 1904: Mit einem großen städtischen Musikfest wird der Saalbau der Kunst geweiht – Musikalische Leitung des Konzertes: Städtischer Musikdirektor und Königlich Preußischer Hofkapellmeister Dr. Richard Strauss

26. Juli 1943: Zerstörung des Saalbaus im Zweiten Weltkrieg

14. November 1950: Feierliche Wiedereröffnung

Eine städtische Arbeitsgemeinschaft und ein Architekturbüro legen unterschiedliche Modelle zur Zukunft des Saalbaus (Sanierung, Modernisierung, Umstrukturierung mit Neubau eines Konzerthauses) vor

25. November 1998: Rat der Stadt Essen beschließt mit einer SPD-Mehrheit den Neubau eines Konzerthauses – als Reaktion formiert sich ein breites Bündnis aus Bürgern und Parteien (CDU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP), Vereinen und Verbänden, die in einem Bürgerbegehren für den Umbau des Saalbaus und gegen einen Neubau kämpfen

25. Februar 1999: Sprecher dieses Bündnisses übergeben dem Oberstadtdirektor mehr als 89.000 „Neins“ gegen einen Neubau

25. März 1999: Ratssitzung, in der auch die SPD dem Bürgerbegehren zustimmt

28. Februar 2001: Rat der Stadt Essen – inzwischen mit CDU-Mehrheit – entscheidet über Vorentwurfsplanung, Baufinanzierungs- sowie Nutzungs- und Betriebskonzept

Frühjahr 2002: Beginn des Umbaus zur Philharmonie Essen nach den Plänen des Architekturbüros Busmann + Haberer

März 2002: Berufung von Michael Kaufmann zum Intendanten der Philharmonie Essen

5. Juni 2004: Feierliche Eröffnung der Philharmonie Essen

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