1. Die Moderne bedeutet für den Menschen eine zweifache Herausforderung: Zum einen stellen sich – aufgrund des ständigen Wandels und der Tendenzen zur Globalisierung – neue Orientierungsnotwendigkeiten. Zum anderen reduziert sich die Akzeptanz herkömmlicher Orientierungs- und Sinnstiftungsangebote.
2. Sinnstiftung und Orientierung ist dabei ebenfalls ein ausufernder Markt ganz unterschiedlicher „Anbieter“ geworden. Neben Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Wissenschaften und Weltanschauungsgemeinschaften gibt es vielfältige kommerzielle und mediale Angebote.
3. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur nicht unverständlich, sondern sogar notwendig und unvermeidbar, wenn im politischen Bereich Überlegungen angestellt werden, zu einer akzeptierten normativen Grundlage des Zusammenlebens zu kommen.
4. Sowohl die Debatte über eine (deutsche oder europäische) Leitkultur als auch die Vorschläge zu einem verbindlichen „Kanon“ in den Unterrichtsfächern gehen in diese Richtung: Verbindlichkeit zu schaffen für das Gemeinwesen mit dem Ziel, das „Wir“-Gefühl zu stärken oder sogar erst herauszuarbeiten.
5. Allerdings: Bei aller Berechtigung des Anliegens, gehen sowohl die Versuche mit einer Leitkultur als auch mit einem Kanon in die falsche Richtung (völlig unabhängig davon, wie die jeweilige inhaltliche Füllung der beiden Begriffe geschieht). Denn:
6. Kulturelle und somit auch normative Grundlagen einer Gesellschaft sind (zwar durchaus) durch Politik, Medien oder andere gesellschaftliche Kräfte zu beeinflussen. Jedoch gibt es in unserer pluralen Gesellschaft eine Vielzahl von Akteuren und Interventionsmöglichkeiten; es gibt zudem eine Fülle je individueller Rezeptions- und Bearbeitungsformen solcher Angebote, so dass ein solcher Versuch nicht zeitgemäß ist (er wird außerdem nicht funktionieren).
7. Angesichts der Pluralität der Gesellschaft und der inzwischen im Alltag der Menschen angekommenen „Lust auf Freiheit“ werden autoritär vorgetragene Sinnstiftungskonzepte nicht mehr angenommen: Die Zeiten einer „Sinnstiftung von oben“ sind vorüber.
8. Sinnstiftungsangebote – auch solche, die man glaubt, historisch begründen zu können – können bestenfalls durch gesellschaftliche Diskurse und Aushandlungsprozesse die notwendige Legitimation erhalten.
9. Auch ein „Kanon“ kann – angesichts der über Jahrhunderte ungelösten Problematik, geeignete Lehrinhalte zu finden – nur noch dezisionistisch „gesetzt“ werden. Alle Bemühungen, auf nachvollziehbare Weise zu einer akzeptierten Stoffauswahl zu kommen, sind gescheitert (z. B. enzyklopädischer Ansatz, Elementarisierung, exemplarisches Prinzip, Wissenschaftsorientierung).
10. Trotzdem kann sowohl der Vorschlag einer Leitkultur als auch eines Kanons sinnvoll sein: Als Diskursangebot des Absenders, bei dem an konkreten Inhalten deutlich wird, welche Vorstellung von Werten, Gemeinschaft, Normen, Lebensformen et cetera vorhanden ist. Dadurch wird diese Position diskutier- und verhandelbar.
Fazit: Als Diskursangebot ist sowohl die „Leitkultur“ als auch ein „Kanon“ ein Beitrag zu einem notwendigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. Jeder dieser Vorschläge verdient dann auch die Zustimmung beziehungsweise Kritik, die er provoziert.