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Zoltán Kodály und sein Jahrhundertplan

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Historisches und Gegenwärtiges über den ungarischen Musikunterricht, Teil I &#183
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„Ungarn” ist das große Thema von „Kunst & Kultur” im September, womit die kulturpolitische Zeitschrift der ver.di einen ersten Schwerpunkt auf die kulturelle EU-Erweiterung setzt. Ungarische Künstler, Wissenschaftler und Publizisten schreiben über die Kultur in ihrem Land. Hier ein Beitrag über das Entstehen und den gegenwärtigen Stand der ungarischen Schulmusik, die mit dem Namen Kodály verbunden ist.

Sind die Ungarn musikalischer als andere Völker? „Ziel des Volksschul-Musikunterrichts ist es, die musikalischen Gefühle zu wecken und zu pflegen, das Hören zu üben, die Taktsinne zu entwickeln, zur Förderung des Gemüts beizutragen und ein wirkungsvolles Mittel zur Pflege religiöser und patriotischer Gesinnung zu sein.” Fast genau 100 Jahre ist dieses Verdikt alt, mit dem ganz sicher nicht Musikalität oder Amusisches in der Geschichte eines Volkes erklärt werden kann. Immerhin stammt der Satz, der 1905 eine Richtlinie aus dem Jahr 1877 ablöste, aus dem zweiten Lehrplan in Ungarn für das Fach Musik. Bereits 1868 hatte der nationalliberale Reformpolitiker und Schriftsteller József Eötvös in seiner Funktion als Minister den Gesang in das erste Volksschulgesetz aufgenommen.

Dennoch wurde Musik in Ungarn nicht nach einer einheitlichen Methode unterrichtet. Am verbreitetsten war die von dem Musikpädagogen István Bartalus adaptierte Heinroth’sche Skalenmethode, die auf dem Ausbau der C-Dur-Tonleiter basiert – zumeist mit gekünstelten Melodien. Der Lehrplan von 1925 modifizierte dieses Dilemma eigentlich nur. Als Ziel waren zwar „die Aneignung der bleibenden ungarischen, weltlichen Lieder und religiösen Gesänge und damit die Erweckung der Lust zum ungarischen Lied” festgeschrieben, doch lag dazu kein entsprechendes Liedmaterial vor.

Zoltán Kodály, geboren 1882, kehrte 1905 in die Region seiner Kindheit, in die Gegend um Galánta in der heutigen Slowakei, zurück. 1906 notierte er: „Wir erkennen die Grundschicht unserer Volksmusik, auf die unsere Kultur gebaut werden könnte.” 1925 dann, nach seiner ersten Volksmusikbearbeitung für einen Kinderchor, präzisierte er: „Endgültige Erkenntnis, dass die Zukunft nur über unsere Kinder zu gestalten ist. Zum besseren Musiker und besseren Ungarn gewordene Kinder machen das bessere und ungarische Musik erschaffende und liebende Ungarn aus.” Solche Gedanken lieferten freilich Angriffsflächen für Attacken von allen möglichen Seiten. Mal wurde er als Sympathisant der Kommunisten gebrandmarkt, mal als Nationalist oder seelenzerstörender Modernist. Doch unbeirrbar hielt Kodály an seinen früh entwickelten Ideen fest, wie er sie 1947 programmatisch zusammenfasste: „Ziel: ungarische Musikkultur. Mittel: Verallgemeinerung des musikalischen Lesens und Schreibens durch die Schule. Zugleich Weckung der ungarischen musikalischen Betrachtungsweise zum Selbstbewusstsein in der Kunsterziehung ebenso wie zur Publikumserziehung. Hebung des Musikgeschmacks der Ungarn, stetige Besserung und Entwicklung des Ungarischen. Meisterwerke der Weltliteratur sollen Gemeingut werden und Menschen jeglicher Ordnung, jeglichen Ranges erreichen.”

Lebensbedürfnis Musik

Als Lehrer der Budapester Musikakademie kannte Kodály den professionellen Teil des Musikunterrichts gut. Die Akademie bildete Musiker aus, die weltbekannt wurden, doch Einfluss auf die Publikumserziehung und die musikalische Bildung breiter Schichten besaß sie nicht. Bis 1929 schuf Kodály deshalb eine große Zahl von Kompositionen für Kinderchöre, die von ehemaligen Schülern und von aufgeschlossenen Gesangslehrern popularisiert wurden. Dank der Reformer begann fünf Jahre später in organisiertem Rahmen und unter der Leitung von Lajos Bardos und anderen die bis heute lebendige Chorbewegung „Singende Jugend”.

Ein Artikel Kodálys zum Kinderchorabend von 1929 fasste die künstlerische und didaktische Bedeutung des Chorgesangs zusammen: „Es soll eine Gemeinschaft erzogen werden, deren Lebensbedürfnis die anspruchsvolle Musik ist. Das ungarische Publikum muss aus seiner musikalischen Anspruchslosigkeit geholt werden. Und damit kann nur die Schule beginnen.”
Drei Komponenten der pädagogischen Konzeption gab es damals schon, einen gesellschaftlichen und zwei musikalische Gesichtspunkte: 1. Die künstlerischen Werte sind durch die Schule jedem zugänglich zu machen. 2. Der Gesang ist das für jeden erreichbare schönste und kostengünstigste Mittel, das besonders im Chorgesang erlebnishaft wirkt. 3. Die wertäquivalente Stoffauswahl, wobei Vorrang die musikalische Muttersprache haben muss, die sich in Volksliedern und Volksmusik spiegelt.

Als geeignetste Methode des Unterrichtens im musikalischen Lesen und Schreiben erkannte Kodály die Solmisation (erstmals erwähnt im Nachwort zum Heft „Bicinia Hungarica I” von 1937). Kodály hatte ihre breite Anwendung als Movable Doh nach Curwen bei seinen zahlreichen Englandreisen studieren können. Er sah darin ein auch für den ungarischen Volksmusikschatz gut adaptierbares System. Doch die Anwebung setzte entsprechende Literatur voraus, weshalb er zahlreiche Gesangsübungen schrieb und Buchstaben-Noten-Hefte für den Gesang zusammenstellte.

60-jährig äußerte er sich dann auch noch zur Musikerziehung im Kindergarten und schließlich, um 1950, formulierte er auf einer UNESCO-Konferenz in Paris, dass man „mit der musikalischen Erziehung des Kindes neun Monate vor seiner Geburt beginnen” müsse.

Wichtige Nebenaspekte

Zu den weniger bekannten und angewandten Aspekten der Kodály’schen Erziehungskonzeption gehören seine Überlegungen zum Improvisieren (1929) und zum Instrumentalunterricht mit einfachen Instrumenten (Flöte und Xylophon); beim mehrstimmigen Gesang favorisierte er das Üben ohne Klavier; für die Hörerziehung schienen ihm Live-Aufführungen auch auf bescheidenem Niveau geeigneter als Musik auf Tonträgern; wichtiger als theoretische und musikgeschichtliche Kenntnisse waren für ihn musikalische Aktivitäten und damit verbundene Erlebnisse und Erfolge; für das Herangehen an größere Kompositionen empfahl er anstelle ästhetischer und programmatischer Erklärungen das musikalische Erfahren über den Gesang einzelner Themen. (Als sich Anfang der 60er-Jahre die Schallplatte in den Schulen durchgesetzt hatte und Musikhören ein offizieller Teil des Unterrichts wurde, unterschied man fortan zwischen „Musik” und „Gesang”.) Neben musikalischen Bewegungsspielen von kleinen Kindern hielt Kodály den Volkstanz für wichtig, zudem sollten Schulen nicht nur Turnhallen, sondern auch Schwimmbäder Haben (1929!). Nach 1950 äußerte er sich zur Transferwirkung von Musik und betonte neben der Erziehung zur Musik auch die Wichtigkeit der Erziehung mit Musik. Für ideal hielt er eine Gesangsstunde täglich, mindesten jedoch 20 Minuten; ansonsten forderte er als Minimum zwei Gesangsstunden wöchentlich. Schlüsselfigur einer erfolgreichen musikalischen Erziehung war jedoch für ihn ein musikalisch und pädagogisch gut vorbereiteter, enthusiastischer Lehrer.

Bereits Ende der 30er-Jahre wurden Teile des Konzepts in die Praxis umgesetzt. Bartóks Chorwerke für junge Menschen waren 1936 erschienen und das Gesangs-ABC, ein Reformlehrbuch von zwei Kodály-Schülern. Die achtjährige Grundschule wurde gesetzlich festgeschrieben und trotz der Kriegsjahre erhielt Kodály den Auftrag, eine Schulgesangssammlung auf der Basis seiner jahrzehntelangen Volksmusikforschung zusammenzustellen. Unter der Mitarbeit seines ehemaligen Schülers György Kerényi entstand eine zweibändige Sammlung, die in der Mehrheit ungarische Kinderspiellieder bis hin zu Balladen enthielt, daneben historische Kompositionen, volkstümliche Lieder, Kirchenlieder sowie Lieder der finnisch-ungarischen Völker und die der Nachbarn aus dem Karpatenbecken.

Auf der Grundlage dieser Schulliederbücher erarbeitete ein weiterer Kodály-Schüler, Jenö Adám, eine Methodik sowie erste Lehrbuchreihen, doch – nach 1948 erschienen – sie wurden rasch wieder eingezogen, weil den Kommunisten religiöses Liedmaterial ein Dorn im Auge war. Obwohl sie durch Bücher mit Liedern der Arbeiter- und Pionierbewegung ersetzt wurden, dienen bis heute die „Gesangbücher nach Kodály-Adám” als Ausgangspunkt für fast alle neuen Lehrbücher.

Antike und Sozialismus

Zweifellos trugen die zwei Pflichtmusikstunden innerhalb des demokratisierten, einheitlichen Schulsystems (acht plus vier Jahre) samt einer qualifizierten Fachlehrerausbildung zur Durchsetzung des Kodály-Konzepts und der Anwendung der „Adám-Methode” bei. Doch das zentralisierte Anweisungssystem führte auch zu Beschränkungen und zu einer Erstarrung. Kodály hatte jedoch mehr im Sinn als die Solmisation, die unterstützenden Handzeichen, das Primat des pentatonischen Liedmaterials und die Betonung des Gesangs, mit dem seine Ideen heute identifiziert werden. Sein Ideal war die antike griechische Erziehung.

Ideale sind das eine, die Wirklichkeit das andere: Das sozialistische Unterrichtswesen betonte stets die Bildung der Massen, optimale Bedingungen dafür zu schaffen, blieb es schuldig – wie übrigens alle Regierungen nach dem Systemwechsel. Der Unterricht an den Mittelschulen fand auf noch schwierigerem Boden statt als der in den Grundschulen. Es fehlte und fehlt an qualifizierten Gesangs- und Musikpädagogen für den Fachunterricht. Für Kodály bedeutete es einen ständigen Kampf – auch um die festgesetzte Stundenzahl und gegen die Ideologisierung der Lieder. Zudem richtetet sich sein Einspruch gegen die Flut von Unterhaltungsmusik, die natürlich vor den Schultüren nicht halt machte.

Dennoch waren die 50er- und 60er-Jahre die Zeiten des Aufschwungs für den Musikunterricht. Dieser Entwicklung und Kodálys nationalem und internationalem Ruhm verdankt Ungarn die so genannten Gesangs- und Musikgrundschulen, an denen wöchentlich vier bis sechs Gesangsstunden unterrichtet wurden. Seit 1956 gab es dazu einen Ministerbeschluss, der den Einsatz von Fachlehrern schon in der ersten Klasse regelte.

Als 1967 Kodály starb, existierten bereits mehr als 100 solcher Schulen, in den 80er-Jahren war die Zahl auf mehr als 200 angewachsen. Weil sie dennoch nur etwa zehn Prozent von allen Schulen ausmachen, hatten sie den Ruf von „Eliteschulen”. Dem starken Interesse im Ausland dienten Sommeruniversitäten und Seminare, zumal die Erfolge auch durch pädagogische Erhebungen belegt sind, in denen die Schüler als kreativer, leistungsstärker und belastbarer beschrieben wurden.

Lesen Sie Teil II in der nmz 10/03

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