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Musikjournalismus trimedial heißt medienübergreifende Berichterstattung im Hörfunk, Fernsehen und Online-Bereich. Foto: Martin Hufner
Musikjournalismus trimedial heißt medienübergreifende Berichterstattung im Hörfunk, Fernsehen und Online-Bereich. Foto: Martin Hufner
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4’33’’ oder: Vom FormatDiktat

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Ein Zwischenruf von Wolf Loeckle
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Zeit mag dehnbar sein, frei nach dem Motto „...und von da an zog sich’s“. Dem entgegen zu wirken, stellen sich feingliedrig wirksame Struktur­elemente zur Verfügung. Das gilt für Fahrpläne wie für Sendelaufpläne zum Beispiel. Einer dem Stadium der Volldigitalisierung entgegen eilenden Gegenwart dürfte das kaum Probleme bringen. Der Algorithmus wird’s schon richten, im Zeitalter des Wisch und Weg. In einem werbegenerierten Programm haben die werbefreien Segmente das Umfeld so zu beackern, dass die „Commercials“ ihre so genannte Botschaft erfolgreich an den Mann, an die Frau bringen. Soweit so alt. Auch die Begriffe Format­radio und Formatdiktat sind trotz immenser Wirkungskraft von gestern. Die Trimedialisten vom immer noch jungen dritten Jahrtausend begreifen sich medien- und grenzüberschreitend uneingeschränkt auf der Seite des Fortschritts.

Das meinte die Frankfurter Rundschau nicht alleine am Ende der siebziger Jahre auch, als sie das öffentlich-rechtliche Radio attackierte (das damals noch nicht bedrängt war vom privatwirtschaftlich organisierten Betrieb) ob seiner Verknappungen im Rahmen der Kulturberichterstattung. „Die Leute wollen das Gequatsche nicht“, hieß es aus den oben angesiedelten Hierarchie-Etagen. Dass da eine Obergrenze von 3’15’’ vorgegeben wurde, um auch komplizierte Sachverhalte zu dokumentieren, war der Aufregung wert. Verändert hat sich viel seitdem. Indem alles Hörbare immer noch knapper, schneller, regelrecht bildhafter wurde. Solchen bald diktatorischen Formatdiktaten können sich kreative Formate in den Weg stellen.

Das Konzept 4’33’’ zum Beispiel von John Cage. Das gibt auch einen zeitlich begrenzten Rahmen vor. Innerhalb seiner Grenzen entfaltet sich freilich nicht das Manipulationsritual der Lobby­isten samt ihrer Verkäufer. Nein, da ist jeder Einzelne von uns eingeladen, sich kreativ zu betätigen – mit Hilfe seiner offenen Ohren. Und seiner kreativ vernetzten Gehirnwindungen. Der Werkbegriff entwickelt sich im eigenschöpferischen Mitvollzug dessen, was sich beim geöffneten Fenster um einen herum akustisch ereignet. Stellt sich gleichzeitig selbst in Frage. Und wird heute wieder – in Donaueschingen nicht zuletzt – erneut als „Großes Werkformat“ zur Diskussion gestellt. 4’33’’ markiert in vier Minuten dreiunddreißig Sekunden nicht die Reisezeit von A nach B, sondern das womöglich genialste Konzept der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts im Verbund der sich öffnenden Künste mit Auswirkungen ins dritte Jahrtausend hinein. Jeder komponiert im Kopf sein eigenes Opus. Die Vorstellung dagegen, dass ein großes Symphonieorchester in voller Besetzung vier Minuten dreiunddreißig live auf Bayern4Klassik (wie der Kanal damals hieß) agieren würde können, ohne dass irgendetwas über den Äther geht, das mag nicht nur als Weltpremiere absurd erscheinen. Sind doch Löcher im Radio das echt Schlimmste. Schon zwei Sekunden …

Doch das war so, zu Gast bei den Bamberger Symphonikern. Christoph Poppen dirigierte, die Musiker agierten, ohne Ton zu geben. Und das Kontrollpersonal auf den terrestrischen Sendern des BR im Mittelgebirge wie im alpinen Hochbereich wollte vorgewarnt sein, um nur ja keine Notprogramme zu starten. – Nicht dem Kommerz allein zu Diensten. Sondern dem Geist in der Kunst – und in den Medien. Nicht nur lineare dreifünfzehn sind angesagt sondern auch Strecken, die dem Thema gemäß sind.
Wie hieß sie doch so schön, jene denkwürdig heitere und witzige und sechzigminütige kollektive Abschlussarbeit des „Lernradios“ vor Jahren? „Vitamine fürs Ohr“. Die neoliberalen Zeiten änderten seither alles. Die privatwirtschaftlich aufgestellten Institute ballerten lautstärker ihre Oberflächlichkeiten in den Äther. Den Öffentlich-Rechtlichen blieben immer noch Nischen fürs Senden. Und: Der Musikhochschule Karlsruhe, speziell ihrem Institut für Musikjournalismus, wie es aktuell heißt, gebührt ein Danke für die Nachwuchspflege nicht nur im Geist der dem Kommerz geschuldeten Schnellschüsse. Sondern auch der Radiokunst. Der Zeitkunst Musik – mit all ihren trimedialen Weitungen ins Filmische hinein. Es möge so bleiben – indem es sich ändert. Ständig. Das Digitale hat sich durchgesetzt. Für’s Erste.

Dennoch: Wahrheitsgetreu recherchiert und künstlerisch komponiert. Kritisch, selbstkritisch, auratisch. Berechenbar. Überraschend. Verzaubernd. Und ungemein faszinierend. So mag es überleben. Unverkennbar als Radio. Es lebe „Das Radio“ in all seinen Expansionen. Im Netz. Oder „On Air“. Voller Geist und Verantwortungsbereitschaft. Unterhaltend. Nachdenklich. Dem Inhalt geschuldet. Damit die individuelle Kreativität blühe. Neu erblühe. Beim Produzieren. Beim Hören. Beim Zu-Hören.

  • Der Text entstand anlässlich der Verabschiedung des Autors als Dozent des Lernradios der Hochschule für Musik Karlsruhe Ende 2018.

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