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a tempo (2009/05)

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Diskretion – bitte Abstand halten!
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Der einzige Ort, an dem im öffentlichen Raum kenntlich um Diskretion gebeten wird, ist – neben dem katholischen Beichtstuhl – der Bankschalter. Galt die Ehrfurchtsbezeugung des Abstands traditionell dem Heiligen (Altarstufen bitte nicht betreten) , so ist unser heiliger Ort heute – der Schalter. Früher: Der Mensch vor Gott. Heute: Der Mensch vor dem Geld.

Abstand und Diskretion bei Geldgeschäften: Hier mag noch die alte anale Fixierung mitschwingen, die Freud beschrieb. Schamgefühl bei Gelddingen, ein Relikt aus alten Tagen. Sonst sind wir mit Diskretion nicht so zimperlich. Nicht in Gefühlsdingen, nicht im privaten Austausch. Laut herrscht hier ein medial perpetuierter Voyeurismus, der alle Lebensbereiche penetriert.

Die Qualität der Intimität ist (fast) verschwunden. Wo Gefühl war, steht heute der Verbrauch. Wir haben es uns gefallen lassen, statt als empfindende Bürger als eine Masse von Verbrauchern angesprochen zu werden. Damit haben wir die Einwilligung in die eigene Demütigung gegeben. Nicht von Individuen ist die Rede, sondern von Konsumenten.

Gerade Gefühlswerte dienen heute dem Verbrauch. Die zentrale Kategorie dafür ist der Kitsch. Kitsch ist die Zurichtung von Gefühlswerten für den Verbrauch. Kitsch hat dabei zwei nützliche Seiten: Er präpariert nicht nur die „Verkaufsseite“ von Gefühlswerten, sondern er dient gleichzeitig auch als Entlastung von der noch irgendwie gefühlten Unerträglichkeit dieser Situation. Die kalkulierte Gefühlsverlogenheit des Kitsches in diesem doppelten Sinn ist die Kennmelodie der nachbürgerlichen Gesellschaft. Eine hysterisch-sentimentale Fassade der Selbstgerechtigkeit dient als psychisches Bollwerk gegen die Ahnung, die Selbstentlassung als Subjekt selbst betrieben zu haben. Umso lustvoller und lauter das öffentliche Nein zu mir selbst als Individuum im Rausch der Massenkultur. Das Ja zur Quote ist das Nein zu mir selbst (und umgekehrt).

Die bürgerliche Kunst war eine Kunst der Intimität und des Abstands, der diese Intimität schützte. Wo sie ins Monumentale neigte, war der Erhabenheitscharakter eher der sakralen Sphäre entlehnt als der feudal-weltlichen. In der Umwandlung des feudalen Abstandsgebotes (das die Hierarchie zu sichern hatte) in das bürgerliche, das Gefühlsintimität und damit individuelle Authentizität sicherte, liegt sicher das Hauptverdienst der bürgerlichen „(R)Evolution“. Allerdings setzte die Selbstüberholung der bürgerlichen Werte schon mit der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft ein. Proletarisierung und Massengesellschaft sind intrinsische Merkmale der bürgerlichen Beschleunigung. Den panischen Schrecken vor dieser Beschleunigung hört man beispielsweise in Schumanns Musik.

Johannes Brahms schreibt 1892 über das 5. Stück seine Fantasien op. 116: Intermezzo – Andante con grazia ed intimissimo sentimento. Ich würde übersetzen: mit dem größtmöglichen Gefühl für Intimität.
Diese Intimität entzieht sich unserem heutigen popkulturellem Universum – und „Klassik“ und „E-Musik“ sind längst Teil dieses universalen popkulturellen Zusammenhangs geworden. Wie ist diese Intimität zu retten, will sie gerettet werden?

Diskretion – bitte Abstand halten. Vielleicht sollten wir einige dieser Schilder aus den Banken und Sparkassen klauen und sie vor den Konzert-sälen aufbauen (mit einer kleinen Verbeugung vor Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen) – vielleicht würden sie neugierig machen auf etwas ganz Seltsames: einen Ort, an dem der Respekt nicht dem Geld und der Quote, sondern der Intimität des Fühlens und Wahrnehmens und damit der menschlichen Authentizität gilt.

Denn diese Authentizität ist das Desiderat in einer Gesellschaft des organisierten Verbrauchertums. Con intimissimo sentimento: mit dem größtmöglichen Gefühl für Intimität sind nicht nur Brahms’ Klavierstücke geschrieben, auch die Werke eines Helmut Lachenmann oder Luigi Nono, eines Mark Andre oder Sidney Corbett. Aus einem intensiven Wissen um die Gefährdung des Menschen. Und so wollen sie auch gehört werden.

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