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a tempo (2009/06)

Untertitel
Die Belebung der toten Winkel
Publikationsdatum
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Beliebt ist die Bedeutsamkeit.
In den 60er-Jahren gab es den „Phonoklub“. Monat für Monat kam eine Platte ins Haus, Mozart, Mendelssohn, Beethoven, … und wenn ich mich recht entsinne, stand – jedenfalls in den ersten Jahren – irgendwo auf der Plattenhülle ein durchlaufendes Spruchband, eine Ermunterung, die ich damals sehr ernst nahm: „Weihet mit Musik hohe Lebensstunden … Weihet mit Musik hohe Lebensstunden …“

Ich wusste zwar nicht, was „hohe Lebensstunden“ sein sollten, ich war aber – 12 oder 13 Jahre alt – fest entschlossen, mein Musikhören, wann immer und wo immer, zu einer „hohen Lebensstunde“ zu machen, beispielsweise auch, wenn ich müde nach der Schule nach Hause kam, den Mittags-Tisch decken sollte und dabei eine der Phonoklub-Platten auflegte, und zwar mindestens Beethovens Neunte, sehr zum Verdruss meiner Geschwister und anderer Hausbewohner. Aber mit dieser „Verstärkung“ im Rücken bei voller Lautstärke aus der Grundig-„Musiktruhe“ schaffte ich auch das öde Tischdecken mit Schwung.

Ich hatte damals noch keine Ahnung, auf welchen Leim ich da gegangen war. Einem gesellschaftlichen Alleskleber, sozusagen: Dem Leim der Bedeutsamkeit,  einem Bindemittel, das „Erhebungsbereitschaft“ weckt, pflegt und – in den meisten Fällen – missbraucht zur Verklärung falscher Zustände. Erst später habe ich dann bemerkt, wo überall und immer – nicht nur im bürgerlichen Wohnzimmer – dieser Kleber am Werk ist.

Not tut die Nüchternheit.

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino – Büchnerpreisträger des Jahres 2004 (so schnell geht das im Betrieb, wer weiß das noch?) – hat seine Frankfurter Poetikvorlesungen aus dem Jahre 2006 überschrieben mit dem Titel: Die Belebung der toten Winkel (Hanser Verlag). In diesem Text, in dem Lakonie und Nüchternheit nur andere Worte sind für nicht enden wollende Liebe zum Gegenstand, habe ich mich unlängst wieder verloren. Auch wenn es um Literatur geht, es geht (auch) um Musik.

Genazino beschreibt alltäglichste Begebenheiten und Dinge und spürt in ihnen das Flackern der Transzendenz auf, ohne je am Leim der Bedeutsamkeit hängen zu bleiben. In der „Belebung der toten Winkel“, im genauen und nicht nachlassenden Beobachten von „bedeutungslosen“ Sachen und   Lebensvollzügen erschließt sich dem Dichter der Blitz des Poetischen.

Ich zitiere einen längeren Abschnitt aus Genazinos erster Vorlesung, weil sie mir geradezu paradigmatisch auch eine Wahrheit über Musik und die an Musik zu gewinnende Anschauung der Wirklichkeit, und damit etwas über „Authentizität“ aussagt. Authentizität jenseits jeder Bedeutungshuberei.

In dem Abschnitt geht es um einen alten, verschmutzten Geldbeutel. Der Autor hat ihn gefunden und entdeckt in dem zerfallenden Gegenstand das Pass-Foto einer Frau.

„Ich begann, in aller Unschuld und in aller Stummheit, mit dem Foto einen Dialog. Auch das Bild spielte vor meinen Augen mit seiner Zerstörung. Ich konnte nicht klar unterscheiden: Orientierte sich meine Empfindung am Tod der Frau oder am Zerfall des Geldbeutels? Ich nahm Teil am Versinken der Dinge, das in zwei Fällen gerade endgültig wurde. Die verrottenden Gegenstände unterhalten, indem sie untergehen, ein Verhältnis zum Tod. Indem ich sie dabei betrachte, nehme ich teil am Tod der Dinge und damit auch an meinem eigenen vorgestellten Verschwinden. Diese Erfahrung wehre ich ab, weil sie nicht auszuhalten ist. Indem ich sie abwehre, lasse ich sie in einer fragmentierten, verkrüppelten Form dennoch zu. Die defizitäre Krüppelform der Vorstellung unseres Verschwindens ist vermutlich die einzige authentische. Wir verschwinden als phantasiertes Fragment und leiten davon eine krüppel-ähnliche Selbsterfahrung ab. Unser zukünftiges Nicht-mehr-da-sein sitzt und geht und steht neben uns und lässt sich als Abbruch dennoch nicht fassen. In diesem Fernruf des Verschwindens nistet die poetische Empfindung.“

Und weiter:

„Im Verschmelzen des Wirklichen mit seiner eigenen Auflösung ereignet sich die Selbstschöpfung des Poetischen ... Man kann das Poetische einen gemeinsamen Blitzschlag von Zeitempfindung und Dingempfindung nennen.“

Eine wunderbare Selbstaussage von Literatur über das Vermögen von Literatur, „Wahrheit“ erscheinen zu lassen. Ich lese diesen Text aber auch als einen Text über Musik. Wir müssen nur „Gegenstände/Ding“ ersetzen durch „Klang/Ton/Material“ und „Beobachten“ durch: „Hören/ akustisches Befragen/wahrnehmen“, und wir erfahren, was Musikerfahrung ist.

Das Poetische als gemeinsamer Blitzschlag von Ding(=Ton)-Empfindung und Zeitempfindung: Ist das nicht die treffendste Umschreibung dessen, was erlebend beim Komponieren und damit auch beim Hören von Musik geschieht?  Dieser Blitzschlag ereignet sich unabhängig von „Gemeintem“, „Gewolltem“ und „Bedeutendem“, beziehungsweise er ereignet sich nur dort, wo dieses fehlt! Nur dank eines achtenden Umgangs mit der Wirklichkeit – und das heißt der Zeitlichkeit – jedes einzelnen Phänomens, welcher Provenienz auch immer, kann diese „Epiphanie“ – wie Joyce es nannte – im Kunstwerk erscheinen. Kommt das Gewollte, die „Bedeutsamkeit“ vom Autor aktiv ins Spiel, ist das Spiel aus – und es handelt sich um ein Spiel, vielleicht um eine Art heiliges Spiel. Umgekehrt heißt das auch: Wo dieses Nachspüren der Zeitlichkeit und Dinglichkeit fehlt, ereignet sich auch nicht „das Poetische“.

Genazino schreibt von einer „gewissen somnabulen Sicherheit“, mit der „Dichter und Kinder das Poetische an seinen Nistplätzen aufsuchen“ und „Verhältnisse der freundlichen Belauerung“ eröffnen. Voraussetzung ist dazu „die Offenheit der Weltteilnahme“, die der Dichter mit dem Kind teile. „Wie das Kind nimmt der Dichter Kontakt mit Details und Dingen auf. Er muss in der Lage sein, mit diesen in längere Versenkungspausen einzutauchen, auch wenn nicht klar ist, worin sich der poetische Mehrwert einer Versenkung zeigen wird.“

Gerade dieser letzte Halbsatz scheint mir der wichtigste Gedanke, denn nur das offene, unabsichtliche „Nichtwissen“ bahnt dem Poetischen – und damit dem Lebendigen – den Weg ins Kunstwerk und feit uns vor der Erstarrung des Wissens.

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