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a tempo (2009/07)

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Kuscheln in der Krise?
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In der derzeitigen Krise hätten „sanfte“ Gesellschafts- und Wirtschaftsutopien Konjunktur, so unlängst die Süddeutsche Zeitung in einem Feuilleton. Zitiert wurden Stimmen, die im Überzeugungston der Marktliberalen abschätzig meinten, nun würde wieder unter der Decke des ach so schlechten Großen Ganzen hingebungsvoll im Kleinen „gekuschelt“, statt sich damit abzufinden, dass der Kreislauf des globalen Kapitalismus eben mal Opfer verlange. Schick sei jetzt das Kleine und Überschaubare, defensive Sinnstiftung eher gefragt als aggressives Problemlösen.

So abschätzig redet gerne ein schlechtes Gewissen, das nicht wahr haben will, dass sein Einschwingen in eine kollektive Größenfantasie mit der Wahnvorstellung von stetigem Wachstum in endloser Beschleunigung, Vergrößerung und Akkumulierung, härtesten Schiffbruch an der Wirklichkeit des sozialen Lebens erlitten hat.

Kein gesunder Lebensvollzug kennt stetiges Wachstum. Jedes Wachstum ist an sein Gegenteil, die Apoptose, gekoppelt. Nur maligne Wachstumsprozesse wachsen ungehemmt, und dies auf Grund einer Entkoppelung von bremsenden und stimulierenden Impulsen, die im Gleichgewicht das Leben garantieren. Diesen entkoppelten Zustand nennt man Krebs. Und Krebs nennt man „bösartig“. 

Das Bösartige der bisherigen gesellschaftlichen und ökonomischen Theorie und Praxis erleben wir gerade. Dazu gehört auch das Lächerlich-Machen von Alternativen. Wirkliche Alternativen haben Eines zur Voraussetzung: Das kollektive „Größen-Ich“ muss abdanken, es muss geopfert werden, damit ein reifes, menschliches und soziales Realitätsprinzip Platz greifen kann. Die größenwahnsinnige Verleugnung der Realität muss weichen einem angemessenen Umgang mit Leben, Ressourcen, Zeit und Menschen. Was heißt das für die Kultur, und hier interessiert uns primär die Musik? Und wenn schon, was heißt das für die „Neue Musik“?

Lebendiges Tun bildet immer eine soziale Struktur. So auch Musik. Musik bildet immer eine soziale Struktur. Musiker, Publikum und Veranstalter bestimmen, in welcher Weise sie interagieren möchten. Das Wie der Interaktion bestimmt die Art der sozialen Struktur, die sich ergibt. Dieses Wie ist nicht unabhängig von gesellschaftlichen Normen, es kann aber auch explizite Gegenentwürfe bieten und somit „Modell stehen“, für einen neuen, anderen Sinn, und dem gesellschaftlich sanktionierten Credo („Groß ist besser als klein“, „Profit ist alles“, „Hol’ heraus, was herauszuholen ist“, „Masse vor Klasse“ etc.) entgegenstehen.

Ernsthafte Musik – und ich wähle diesen anscheinend überkommenen Ausdruck bewusst – Ernsthafte Musik (gleich welcher Epoche) zielt (für mich) auf d i e ideale soziale Struktur, da sie Menschen achtungsvoll entgegentritt und sie in Achtsamkeit verbindet. Für Achtsamkeit sagte man früher: Liebe.

Achtsamkeit als der zentrale Übungsweg aller Kulturen zum Erkennen des Gegebenen, führt uns zu uns selbst, zum anderen und zur Welt. Musik-Denken, Musik-Schreiben, Musik-Spielen, Musik-Hören ist undenkbar ohne Achtsamkeit, ohne ein Versammeltsein nach innen u n d außen. Dieses Versammeltsein bringt uns mit uns selbst und dem anderen in Berührung. Das ist der soziale „Sinn“ von Musik. Und der „soziale Sinn“ von Neuer Musik.

Dieser Sinn bedarf der Pflege und Sorge, „er rechnet sich nicht“.
Es braucht Menschen, die sich kümmern, dass dieser soziale Sinn entstehen kann. Menschen, die entgegentreten, wenn, wie bisher, allein der ökonomische Sinn regiert. Es braucht Menschen, die wollen, dass statt des ökonomischen Sinns ein anderer, ein sozialer Sinn Platz greift. Und dieses Wollen kann nur von den Beteiligten selbst ausgehen. Dieser Sinn entsteht eher im Kleinen, in Netzwerken vor Ort und in der Region, in Strukturen, die Partizipation erlauben beziehungsweise ohne diese erst gar nicht entstehen. Warum erlebt man Großveranstaltungen der Neuen Musik oft als „sinnlos“ und ein kleines Konzert abseits der Festival-Pfade mit einem neugierigen, überraschten, ja vielleicht auch ratlosen und aufgewühlten Publikum, da spürt man: „Ja das hat Sinn gemacht!“

So gesehen, darf es keine Delegation an „Fachleute“ geben, die sich beispielsweise um „die Klassik“ oder „Neue Musik“ kümmern, sondern das ist eine Aufgabe, die von allen Beteiligten ein „sich Kümmern“ verlangt. Denn nur wenn alle Beteiligten sich als „Mitwirkende“ erleben, das heißt, auch das Publikum, dann entsteht „Neues“, neuer Sinn. Wo dies nicht gegeben ist, geschieht das, was sich dann „kulturell abspielt“, – und da ist das Meiste – ohne sozialen Sinn, das heißt nur aus kommerziellem, repräsentativem oder manipulativem Interesse.

Vielleicht wird das wirklich Neue einer „Neuen Musik“ im Erleben eines neuen „sozialen Sinns“ liegen, und vielleicht hat sich das wirklich Neue in der „Neuen Musik“ schon längst gebildet und kommt nicht mit dem Imponiergehabe „Materialfortschritt“, nicht mit der Perfektionierung des apparativen Aufwands, mit dem wir unsere Musik „kritiksicher“ machen. Vielleicht kommt das Neue vielmehr aus einem „neuen“ Bedürfnis nach neuem Sinn, in „schlanken“ Formen der Musikvermittlung, der Konzertorganisation, der Netzwerkbildung und in der Beteiligung der Menschen, die durch Musik berührt werden wollen und sich erfahrungshungrig nach authentischem Ausdruck jetzigen Lebens sehnen. Vielleicht ist das Neue schon längst da.

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