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Titelbild: Das Festival „Out of the Box“ im Münchner Werksviertel. Unser Foto zeigt den Pianisten Alain Roche bei einem exklusiven Höhenkonzert über der Baustelle des künftigen neuen Münchener Konzertsaals. Foto: Susanne van Loon
Titelbild: Das Festival „Out of the Box“ im Münchner Werksviertel. Unser Foto zeigt den Pianisten Alain Roche bei einem exklusiven Höhenkonzert über der Baustelle des künftigen neuen Münchener Konzertsaals. Foto: Susanne van Loon
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Alternativer Blick auf die Orchesterlandschaft

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Die Freien Ensembles lassen uns genauer zurückschauen
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Gerade zwei Jahre ist es her, dass die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft zum immateriellen Kulturerbe promoviert wurde mit dem ferneren Ziel, sie 2021 in die betreffende Liste des UNESCO-Weltkulturerbes eintragen zu lassen. Nun steht es auf einem Blatt, ob diese Verwandlung einer sicher herausgehobenen, letztlich jedoch landläufigen Kulturtechnik zu einer Art Nischendasein in der Brauchtumspflege nicht eher kontraproduktiv ist betreffs der beabsichtig­ten Relevanzherstellung im Hinblick auf Menschen und Etats: Schließlich hakt sich da ein Milliardenbetrieb etwa bei der Walz, dem Zwiegesang, dem hessischen Kratzputz oder dem friesischen Biikebrennen unter.

Auf einem anderen Blatt beziehungsweise in einer jüngst vorgelegten kleinen und feinen Schrift stehen dagegen diejenigen Techniken, die besagten Betrieb im Laufe der Zeiten sozioökonomisch und politisch flankierten. Bis heute erfolgreich, wie man es an der erwähnten Nominierung ablesen kann, oder daran, dass von dem millionenschweren laufenden Förderprogramm „Exzellente Orchesterlandschaft“ niemand mehr spricht. Sämtlich Belege erfolgreicher Interessenvertretung und zielstrebigen Networkings.

Schlicht „Die deutsche Orchesterlandschaft“ und im Untertitel „Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen seit 1900“ nennt sich die kleine Schrift, die beim Konstanzer Sozial- und Kulturhistoriker Martin Rempe in Auftrag gegeben wurde von der FREO, der 2016 gegründeten Interessenvertretung der Freien Ensembles und Orchester in Deutschland. Dabei behandelt diese weniger den historischen Nachholbedarf der Freien Szene gegenüber den öffentlich institutionalisierten Orches­tern, deren Verbandsorganisationen die arbeitsrechtliche und soziale Absicherung ihrer Mitglieder schließlich in mehr als 100 Jahren bereits erstritten haben. Rempe, der hier seine eigenen umfangreichen sozialgeschichtlichen Studien zum Musikerleben seit 1850 sowie zahlreiche Vorarbeiten bündig zusammenfasst, geht es vielmehr um eine Korrektur des einschlägigen Narrativs von der Entstehung der deutschen Orchesterlandschaft, welches quasi im copy and paste die Debatten durchzieht.

Kurzum besagt das Narrativ, dass die heute noch dichte Orchesterlandschaft nach dem wilhelminischen Zusammenbruch dadurch entstand, dass die Hofkapellen des 18. und die bürgerlichen Orchestervereinigungen des 19. Jahrhunderts in die Obhut und Budgetkontrolle eines kümmernden Staates aufrückten. Recht simpel nach der Methode der dreifachen Aufhebung des preußischen Staatsphilosophen Hegel gestrickt, die da abschaffen, aufbewahren und erhöhen verhieß. So konnte etwa die politische Absicht ausgeblendet werden, die 1918 „im Felde unbesiegte Nation“ auch im Geiste als ungebrochen zu zeigen. Vor allem aber mitausgeblendet wurde dadurch die organisatorische und strukturelle Vielfalt der deutschen Orches­terlandschaft vor und um 1900, neben den genannten, zahlreichen Orches­terkooperativen und -unternehmen in wirtschaftlicher Eigenverantwortung, zu welcher sich gleichermaßen eine Vielfalt in der berufsständischen Organisation gesellte sowie eine Vielfalt der kulturellen Formen. Denn ausschließlich musikalischer Hochkultur verpflichtet, vulgo: Kulturorchester waren die meisten nicht. Nun, nicht nur diese musikalische Vielfalt wurde in der NS-Zeit übel zurechtgestutzt, und sie wuchs allerdings auch nicht nach.

Völlig legitim also, dass die Freien Ensembles an diese Geschichte erinnern, schließlich sind sie Nachkommen genau jener Musiker und nicht der Angestellten, zu welchen die Beamten der Hofkapellen herunter- und die Arbeiter der Unternehmerorchester heraufgestuft wurden. In diesem Zusammenhang bezeichnend, dass, worauf Rempe auch verweist, in Deutschland – von der NS-Zeit einmal abgesehen – nicht eine Einheitsgewerkschaft aller Musiker entstehen konnte, so wie in England oder den USA, sondern nur eine für die angestellten.

Nun, dereinst wird auf den Blättern dieser Zeitung stehen, wie sich die Orchesterlandschaft weiter entwickelt haben wird, und das mit dem Weltkulturerbe allemal. Wichtiger jedoch wird sein, wie sich unter den kommenden Zumutungen von Markt und Medien der genuine Wert analogen Ensemble- und Orchestermusizierens wird behaupten können. Einen nicht nur der Musikwissenschaft zugänglichen differenzierenden Überblick über die Vergangenheit haben die Freien Ensembles und Orchester vorgelegt. Die Erfahrung hinsichtlich prekärer Zumutungen der Freiheit haben sie den Angestellten ja voraus. Freilich nur so lange, bis auch diese freigesetzt werden, was schneller kommen kann, als man denkt. Höchste Zeit also, zusammen darüber nachzudenken, auch und vor allem im Hinblick auf den Inhalt ob angestellter, ob selbstständiger Arbeit. Die Musik also. 


  • Martin Rempe: Die deutsche Orches­terlandschaft. Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen seit 1900, hg. v. Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V., Berlin 2019, 50 Seiten, € 5,00, ISBN 987-3-982141-61-9 – Die Publikation ist auch online verfügbar unter https://freo.online

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