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Arbeiten an der Klassen-Theorie

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Kongress zur Praxis des Klassenmusizierens an der Universität Mainz
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Eine ganze Klasse voller Querflöten, Klarinetten, Trompeten, Hörner, Posaunen und Tuben auf einmal unterrichten? Was traditionellem instrumentalpädagogischem Denken unmöglich scheint, ist längst Praxis an vielen Schulen im Land. Nun widmete sich ein Kongress der Hochschule für Musik Rheinland-Pfalz im Fachbereich 11 der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in Zusammenarbeit mit der „Akademie für Musikpädagogik e.V.“ drei Tage lang dem Thema des Klassenmusizierens.

Eingeladen hatte der Mainzer Musikpädagoge Prof. Ludwig Striegel, der – wie er bekannte – seinerzeit selbst nach anfänglicher Skepsis „vom Saulus zum Paulus“ geworden ist und nun eine ambitionierte Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet leitet. Im Frühjahr hatte bereits in München ein Kongress zum Thema stattgefunden, der sich eher den theoretischen Aspekten widmete. Diesmal nun sollte es stärker um die Praxis gehen. Zunächst aber stellte Prof. Dr. Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck in seinem Einführungsvortrag eine Brücke zum Münchner Kongress her. Er betonte, man sei sich grundsätzlich einig, dass das Klassenmusizieren zu unterstützen sei. Wichtig aber sei eine theoretische Einbettung. In diesem Zusammenhang erwähnte Schäfer-Lembeck die beiden verbreiteten Legitimationsmuster für den Klassenunterricht: einerseits die Wirkung von Musizieren („Musik macht schlau und sozial“) und andererseits die formalen Repräsentationen, die sich als Folge praktischen Musizierens sozusagen wie von selbst ergäben. Er kritisierte beide Argumente als theoretisch unzureichend und konstatierte weiteren Diskussionsbedarf.

Der größte Teil des Kongresses bestand nun aus praktischen Workshops. Im Streicherbereich konnte man von Barbara Marsch und Anne Kathrin Ullrich sowie Birgit und Peter Bloch die Methode des amerikanischen Violinpädagogen Paul Rolland näher kennen lernen, die die Szene des Streicher-Klassenunterrichts unangefochten beherrscht, wenngleich die einzelnen Dozentinnen individuelle Schwerpunkte oder Ergänzungen vornahmen. Besonders praxisnah wurde es durch einen Bustransfer zu einer Grundschule im Mainzer Brennpunkt, an der Rita Hens und Dorothee Koschnicke sich bei der Arbeit mit den Kindern über die Schulter schauen ließen. Wie auch die anderen genannten Dozentinnen ergänzen sie ihre violinpädagogische Arbeit durch regelmäßig in den Unterricht eingestreute Einheiten mit Relativer Solmisation inklusive der Rhythmussprache. Der Wirkungsdiskurs klang wieder an, als Rita Hens berichtete, dass die Kinder der Streicherklassen zum großen Teil Empfehlungen für das Gymnasium erhalten, während die Kinder der Parallelklassen überwiegend Hauptschul- und Realschulempfehlungen ausgestellt bekommen.

Einblick in die Bläserklassenarbeit konnte man durch Bernd Schumacher gewinnen, der bereits bei der Eröffnung seine Bläserkinder vorstellte, indem er – selbst vom Schlagzeug aus die Gruppe leitend – die musikalische Umrahmung übernahm. Weitere Workshops widmeten sich dem Trommeln (Prof. Thomas Keemss), dem Arrangieren (Konrad Georgi), der Grundmusikalisierung im so genannten „Aufbauenden Musikunterricht“ (Dr. Johannes Bähr), und der Relativen Solmisation (Malte Heygster). Auch der Jazz war mehrfach vertreten: Die Titel „Swinging Voices“ und „Magic Tones“ standen für Gospel, Jazz und Rock (Reiner Senger) sowie für die Jazzimprovisation (Paul Schütt). Steffen Weber zeigte Grundlagen der Jazzharmonik, -rhythmik, -improvisation und -didaktik im Hinblick auf Schulcombos, wobei hier wohl diejenigen besonders profitierten, die bereits ein wenig vertraut mit der Materie waren, ohne Jazz-Spezialisten zu sein. Steffen Liede und Michael Schumacher hielten einen mitreißenden Workshop zum Thema „Samba in the classroom“ und führten vor, wie eine an sich anspruchsvolle Musik mit einem „Baukastensystem“ verschiedener Rhythmen auch von Schülerinnen und Schülern realisiert werden kann.

Außereuropäisches

Die erste Abendveranstaltung gewährte mit Hilfe von Videos und Tonaufnahmen Einblicke in die Musikkultur und -pädagogik außereuropäischer Länder. Lahnor Adjei war als Generalmusikdirektor des National Symphonie Orchestra Ghana gekommen und überraschte das Auditorium mit der Information, dass sämtliche Musiker des Orchesters ihre Instrumente autodidaktisch erlernt hätten. Nichtsdestoweniger spielen sie die so genannte klassisch europäische Musik mit Begeisterung und zeigen sich ihrer kulturellen Umgebung gemäß besonders im rhythmischen Bereich äußerst sicher, während die Intonation mehr Probleme bereitet. Die Musiker geben ihr instrumentales Können mittlerweile an ausgewählte Jugendliche weiter und sorgen so selbst für ihren Nachwuchs. Carmen Stahl berichtete von ihren Erfahrungen aus Malawi, einem der ärmsten Länder der Welt. Von ihren Bild- und Tonaufnahmen faszinierte insbesondere eine Band aus drei Jungen im Alter von knapp über zehn Jahren, die ausnahmslos auf selbst gebastelten Instrumenten – einem Schlagzeug aus Eimern und Kanistern, einem Banjo aus Holz und Lastwagen-Bremszügen – ein ganzes Dorf zum Zuhören und Mittanzen bringt. Schließlich gab Anne Kathrin Ullrich Einblicke in ein Klassenunterrichtsprojekt im Himalaja, wo Kinder der ärmsten und niedrigsten Kaste über mehrere Jahre hinweg Streichinstrumente erlernen. In einem Raum spielen dabei verschiedene Gruppen und arbeiten an unterschiedlichen Aufgaben, ohne sich von der beträchtlichen Lärmkulisse durch die jeweils anderen stören zu lassen. Schließlich spielen sie Mozart-Streichquartette in Orchesterbesetzung genauso gern wie Filmmusik aus den Bollywood-Produktionen oder traditionelle Volksmusik. Alle diese Beispiele regen, wenngleich sie nicht unbedingt zum Zentrum des Kongressthemas gehören, zum Nachdenken über unsere musikpädagogischen Grundprämissen an. Wird hierzulande hauptsächlich an methodischer Raffinesse gefeilt, so zeigt sich dort die Kraft des Einflusses von Umgebung und Motivation.
Die Abendveranstaltung des zweiten Tages war eine Podiumsdiskussion über „Perspektiven des Klassenmusizierens“ mit Gesprächsteilnehmern aus Wirtschaft, Schule und Hochschule, darunter auch die Geschäftsführung der „Akademie für Musikpädagogik“, die vom Bundesverband deutscher Musikinstrumentenhersteller finanziert wird und ihrerseits die Bemühungen der Mainzer Hochschule um dieses Thema finanziell unterstützt. Nachdem das Podium seine insgesamt positive Einschätzung des Klassenmusizierens ausgetauscht hatte, klangen aus dem Publikum durchaus auch kritische Töne an, die wieder an die Forderung nach theoretischer Fundierung im Referat von Schäfer-Lembeck erinnerten. Eine Studentin brachte es auf die Formulierung: „Wie kann das Erlernen eines Instrumentes im Klassenverband mit modernen musikdidaktischen Konzeptionen kompatibel sein?“ Hier verwies Gastgeber Ludwig Striegel auf die Mainzer Forschungen und auf die hier betriebene Erstellung von Praxismaterialien, die auch andere Zugänge als das Instrumentalspiel ermöglichen sollen. Dies demonstrierte Striegel in einem Vortrag zu einem solchen „integrativen Musikunterricht“. Die besagten Praxismaterialien werden Spielhefte für die Kinder ebenso umfassen wie Schulbücher mit darüber hinausgehenden Anregungen, etwa zu den Themenfeldern Musikgeschichte, Musiklehre und -theorie, Musik und Bewegung, Musik und Bildende Kunst. Letztlich soll es also nicht um einen gedankenlosen Praktizismus gehen, sondern auch um Reflexion und Kulturerschließung. Die Materialien enthalten dabei mehr oder weniger bekannte Liedsätze, Sätze aus Musikwerken aller Zeiten vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert und auch Sätze aus den Genres Jazz und Populäre Musik.

Maßgeblich beteiligt war und ist hier auch Striegels Kollege Prof. Tobias Rokhar, der sich als Musiktheoretiker um die Arrangements des Repertoires kümmert. Der Wirkungsdiskurs, auf den Schäfer-Lembeck zu Beginn schon hingewiesen hatte, wurde noch einmal explizit thematisiert, als Martina Flörchinger erste Ergebnisse einer empirischen Untersuchung mit Bläserklassen vorstellte.

Fazit: Herausforderung

Danach lehnten sich die Kinder einer Bläserklasse untereinander weniger ab als Kinder einer Kontrollgruppe. Dieses Ergebnis eines günstigen Einflusses auf das Sozialverhalten war hier deutlicher ausgeprägt als etwa in der viel zitierten Berliner Studie von Hans Günther Bastian. Ob es einen Transfer auf außerschulische Zusammenhänge und auf neue Sozialpartner geben könnte, bleibt hier freilich ebenso offen wie in vergleichbaren Studien.

Die Website http://www.netzwerk-klassenmusizieren.de/ wird auch in Zukunft aktuelle Informationen zum Thema bereithalten. Für Musikpädagoginnen und Musikpädagogen bleibt es eine Herausforderung, weiter an diesem Thema zu arbeiten und dabei amerikanische Traditionen und eigene Hintergründe und Zugänge einerseits sowie praktische Herangehensweisen an die Musik und anspruchsvolle didaktische Grundkonzeptionen andererseits miteinander zu verbinden und auszubalancieren.

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