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Armut im Eldorado?

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Uraufführungen 2019/03
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Es gibt viele Festivals, Konzertreihen, Ensembles, Uraufführungen. Und jährlich kommen neue hinzu. Vor allem die großen europäischen Musikmetropolen Berlin, Köln, Wien und Paris ziehen immer mehr Musikschaffende an. Die dortigen Hochschulen bringen exzellente Absolventen hervor, von denen sich einige bevorzugt neuer Musik widmen. Da die wenigen Spitzenensembles kaum Vakanzen haben, werden jedes Jahr neue Ensembles gegründet. Allein in Köln entstand während der 2010er-Jahre fast jedes Jahr ein junges Ensemble für neue Musik.

Die 2019 aufgelegte Ensembleförderung in Nordrhein-Westfalen und der gestiegene Kulturetat der Stadt Köln befördern diesen Trend zusätzlich. Selten war die Gemengelage hierzulande so vielstimmig, quirlig, aktiv und produktiv. Wir leben im Eldorado der neuen Musik. Wo gute Bedingungen für Arbeit, Verdienst, Austausch und Entfaltung existieren, ballen sich Akteure und Konzerte, was wiederum weitere Musikschaffende anzieht. Viele kommen aus Südamerika, Asien, Osteuropa, Spanien, Portugal, Italien und dem Orient, weil dort in Sachen neue Musik wenig bis gar nichts passiert. Ihre Wanderungen verstärken die Öde dort sowie die Blüte hier, schaffen aber auch wachsenden Profilierungs- und Konkurrenzdruck.

Bei genauerem Hinsehen ist der Reichtum an neuer Musik auch in Deutschland durch prekäre Lebensverhältnisse erkauft. Die Zahl der bei der Künstlersozialkasse versicherten Freiberufler im Bereich Musik hat sich seit 1991 nahezu verfünffacht. Und das Verhältnis zwischen festangestellten und freiberuflichen Musikerinnen und Musikern verkehrte sich seit den Achtzigerjahren von einst siebzig zu dreißig Prozent zu heute dreißig zu siebzig Prozent, mit weiter auseinander driftender Tendenz. Bei den meisten freien Ensembles müssen sich die Mitglieder auch um alles andere kümmern, um Finanzierung, Antragstellungen, Pressearbeit, Werbung, Grafik, Ticketing, Organisation, Terminplanung, Akquise, Transport, Reiseplanungen. Treibmittel des Systems ist Selbstausbeutung. Bei unternehmerisch betriebenen US-amerikanischen Orchestern arbeiten längst mehr Menschen in Verwaltung, Fundraising und Marketing. Das Chicago Symphony Orchestra hat 101 Mitgliedern, aber 140 Büromitarbeiter. Wer spielt dort also in Wirklichkeit das Geld ein?

Die Kommunikations-, Produktions- und Präsentationsweisen der wachsenden freiberuflichen Musikszenen verändern die Musiklandschaft. Der Kultursoziologe Martin Rempe hat in seiner Kurzstudie „Die deutsche Orchesterlandschaft“, herausgegeben von FREO Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V. Berlin 2019, die geschichtlich gewordenen Strukturen der Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen in Deutschland seit 1900 skizziert. Kulturpolitische Empfehlungen oder gar konkrete Handlungsanweisungen gibt er nicht. Aber seine Beschreibung der gewandelten Sozialstruktur der freiberuflichen Musikerinnen und Musiker wirft immer dringlicher die Frage auf, wie sich die Musikförderung neu aushandeln lässt, ohne die Solidargemeinschaft aller Musikschaffenden – festangestellte und freiberufliche – aufs Spiel zu setzen. Doch wo findet dieser Diskurs auf Länder- und Bundesebene statt?


Weitere Uraufführungen:

  • 06.03.: Charlotte Seither, neues Werk für Stimme solo beim Symposion „Die Freiheit … aufzubrechen… 1770 – 2020 Hölderlin, Hegel, Beethoven“, Universität Wien
  • 15.03.: Karl Gottfried Brunotte, giardino religioso & amoroso für Flöte und Orgel, Christuskirche Bad Homburg vor der Höhe
  • 19., 22., 23.03: Ulrich Kreppein, Vito Žuraj, Toshio Hosokava, Christian Mason, neue Werke, Kölner Philharmonie
  • 20.03.: Peter Michael Hamel, Mein Hölderlin für lyrischen Tenor und präpariertes Klavier, sowie die Gesangsszene So kam ich unter die Deutschen für Tenor und präpariertes Klavier, Bayerische Akademie der Schönen Künste München
  • 20.–29.03: Marisol Jiménez, Carlos Gutiérrez Quiruga, Beatriz Ferreyra, Younghi Pagh-Paan, neue Werke, Fes­tival MaerzMusik Berlin
  • 27.03.: Bernhard Lang, Monadologie XXXVIII für Violine und Orchester, musica viva Herkulessaal München
  • 29.03.: York Höller, Beethoven-Paraphrase für Kammerorchester, Musik der Zeit WDR Köln

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