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Publikums- und Antennenkontakt: Das Ensemble Garage bei einer seiner Performances in einem Kölner Leerstand. Foto: Ensemble Garage
Publikums- und Antennenkontakt: Das Ensemble Garage bei einer seiner Performances in einem Kölner Leerstand. Foto: Ensemble Garage
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Aufbruch im Abbruchhaus

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Das Kölner Ensemble Garage startet eine neue, performative Konzertreihe
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Im Haus Severinstraße 194 der Kölner Südstadt existiert im Erdgeschoss noch ein Studio für Kampfsport. Darüber sind jedoch alle Wohnungen leergeräumt, weil bald der Abrissbagger anrückt. Doch bevor er soweit ist, kehrte noch einmal Leben in die verlassenen Gemäuer. Das 2009 von Brigitta Muntendorf gegründete Ensemble Garage startete hier Ende November seine erste eigene Konzertreihe. Drei Jahre lang erhält die Formation vom Land Nordrhein-Westfalen zwanzigtausend Euro für jährlich drei bis vier Konzerte. Weil sich Muntendorf wegen vieler anderer Projekte und ihrer neuen Professur an der Kölner Musikhochschule aus der künstlerischen Leitung etwas zurückziehen wird, entwickeln die neun Musikerinnen und Musiker nun ver­stärkt Eigeninitiative.

Das Ensemble möchte mehr improvisieren und an ungewöhnlichen Orten inszenierte Verbindungen von Hör- und Sichtbarem schaffen. Akiko Ahrendt, seit 2015 Geigerin des Ensembles, erklärt: „Wir wollen nicht nur wie bisher vor allem auswärts gastieren, sondern auch mehr an unserem Stammsitz in Köln. Dass wir gerne als Performerinnen und Performer in Aktion treten, wird sich in unserer neuen Reihe widerspiegeln. Wir möchten neue Formate entwickeln und ein anderes Publikum ansprechen. Statt ein Stück nach dem anderen zu spielen, die alle nichts miteinander zu tun haben, sollen Regisseure dem Ganzen einen Rahmen und roten Faden geben. Man muss das dann nicht unbedingt als ,Konzertʻ bezeichnen. Ich selber sage gerne ,Abend‘, denn das bezieht Kontexte, Szenisches und Visuelles mit ein.“

Den ersten Abend half der Frankfurter Dramaturg Jacob Bussmann mitzugestalten, der bei Heiner Goebbels in Gießen studiert hat. Die Instrumentalisten verteilten sich im leerstehenden Haus mit Solostücken und Duos über drei Etagen auf einzelne Zimmer. Für dezente Inszenierung sorgten Licht, farbige Scheinwerfer sowie einige Requisiten wie gleichsam zurückgelassener Hausrat. Das Publikum konnte dann von einem Raum zum nächsten wandeln, um entweder im Türrahmen vorsichtig zu lauschen, weiterzuziehen oder sich niederzulassen. Sabine Akiko Ahrend spielte in einem mit Laub und Kerzenlicht spätherbstlich inszenierten Zimmer per Mikrophon und Lautsprecher ein telemediales Improvisationsduo mit Schlagzeugerin Yuka Ohta, die gleichzeitig in einem ganz anderen Raum Keramikplatten sowie von der Decke hängende Metallscheiben zum Klingen brachte.

In ein und demselben Wohn- oder Schlafzimmer brachten Bratschistin Annegret Meyer-Lindenberg und Cellis­tin Eva Boesch die „Songs to banish winter III“ von Jesse Broekman zur Aufführung. Saxophonist Frank Riedl wiederum schickte die sanft schwebenden Melodiebögen von Karin Rehnqvists „Psalm ur natten“ von seinem Platz aus durch die leeren und entsprechend halligen Zimmerfluchten.Und Dirigent Mariano Chiacchiarini brachte „ChesSound“ von Marianthi Papalexandri-Alexandri zur Aufführung. Das geräuschvolle Ziehen, Schleifen, Abnehmen und Aufsetzen der teils präparierten Schachfiguren wurden dabei bis zum finalen Matt über mikrophoniertes Schachbrett und Kopfhörer verstärkt.

Das Wandelkonzert nannte sich „Intim“. Ensemble und Publikum kamen in ehemaligen Privaträumen zusammen, an deren Wänden und Böden sich noch Spuren fanden, wo einst Schrank, Bett, Regal und Spüle standen. Im Badezimmer traten die Besucher bei Ahrends Klanginstallation „Vorlage“ auf Kontakte, die unter Teppichen verborgen waren und Stimmen von Mann und Frau mit verschiedenen Varianten von Ja, Nein, Atmen, Keuchen und Stöhnen hören ließen, die man wahlweise zu lustvollen oder zänkischen Intimszenen verbinden konnte. Familiäre Atmosphäre und häusliche Lockerheit schufen schließlich auch Getränke und heiße Suppen, deren Duft aus der Küche durch die anderen Zimmer zog.

Intim war vor allem die Nähe zwischen Publikum und Performern. Besonders intensiv gelang Nils Kohler die Aufführung von Alvin Luciers „In Memoriam Jon Higgins“. Der Klarinettist spielte verschiedene lange Liegetöne zu einem langsam immer höher gleitenden Sinuston, so dass sich die Frequenzen abwechselnd zu beschleunigten oder verlangsamten Schwebungen überlagerten. Zudem füllten die Töne das Kinderzimmer mit stehenden Amplituden-Maxima und -Minima, die sich vom Publikum durch geringe Kopfdrehungen leicht auffinden ließen und den Eindruck erweckten, als entstünden die Klänge zwischen den Ohren mitten im Schädel der Hörenden selbst.

Zu Joanna Bailies „On and Off“ fanden sich alle Musikerinnen und Musiker an Sender- und Dynamikreglern von Radioapparaten zusammen. Und im Treppenhaus spielten sie gemeinsam eine instrumentale Adaption des Schlagers „Niemals geht man so ganz“ von Trude Herr, der Kölner Schauspielerin und Sängerin, die einst unweit ihr „Theater im Vringsveedel“ hatte, dem heutigen Kino Odeon. Eines der nächs­ten Kölner Konzerte wird das Ensemble Garage in einem Jogastudio veranstalten. Möge der jetzt vollzogene Aufbruch im Abbruchhaus die experimentierfreudige Formation noch an viele weitere Orte mit besonderer Aura, Funktionen und Geschichte führen.

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