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Augen auf, Ohren auf, Mund auf

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Neue Musik auf der Weltausstellung in Hannover · Von Ludolf Baucke
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zwei Beispiele vorab, weil sie bis zum Expo-Ende zu hören, zu sehen und zu bestaunen sind. Während vor dem norwegischen Pavillon ein Wasserfall mit stündlich 1,6 Millionen Litern Wasser aus fünfzehn Meter Höhe in die Tiefe stürzt, erlebt der hinter den tosenden Wassermassen in das Pavilloninnere vorgedrungene Besucher eine Klang- und Rauminstallation ganz besonderer Art. Marianne Heske hat einen „Raum der Stille“ eingerichtet. Er verkörpert nicht nur Norwegens über weite Entfernungen unberührte Natur, sondern setzt auch einen denkwürdigen Kontrapunkt zu den multimedialen Turbulenzen anderer Industrienationen. Auf die perforierten Aluminiumplatten des 15-mal-15-mal-15-Meter großen Raums hat Marianne Heske ein um den Faktor 2,5 Millionen vergrößertes Bild ihrer Heimat übertragen. Durch die extreme Vergrößerung hat es seine Gegenständlichkeit gegen abstrakt wirkende Farbtönungen eingetauscht. Zu hören ist nicht viel – gelegentlich kullert ein Stein über einen Geröllhang. Im norwegischen Pavillon bestätigt sich John Cages Wahrnehmung, dass es keine absolute Stille gibt.

Hannovers Expo muss auf Massenspektakel zielen, will sie nur halbwegs die im Vorfeld von Politikern und Veranstaltern mit der Weltausstellung verknüpften Kostenkalkulationen erfüllen. Dass dennoch mitten in dem auf Ereignis- und Funkultur ausgerichteten Weltausstellungstrubel ambitionierte Kulturprogramme angeboten werden, zeugt von Mut und Verantwortungsbewusstsein der Länder. Sie signalisieren, dass ihnen die Weltausstellung mehr wert ist als nur eine gigantisch aufgeblähte Freizeitmesse. Und Neue Musik erklingt dann sogar, ohne sich mit dem Wischiwaschi- und Schickimicki-Crossover zu verbrüdern. Die Geister aus Darmstadt, Donaueschingen, Witten und anderen Zentren der durch Verbände und Verlage eingeschworenen Avantgarde wagen sich in den EXPO-Ring und haben nicht einmal Angst vor der Laufkundschaft. Wer hätte das gedacht? Zwei Beispiele vorab, weil sie bis zum Expo-Ende zu hören, zu sehen und zu bestaunen sind. Während vor dem norwegischen Pavillon ein Wasserfall mit stündlich 1,6 Millionen Litern Wasser aus fünfzehn Meter Höhe in die Tiefe stürzt, erlebt der hinter den tosenden Wassermassen in das Pavilloninnere vorgedrungene Besucher eine Klang- und Rauminstallation ganz besonderer Art. Marianne Heske hat einen „Raum der Stille“ eingerichtet. Er verkörpert nicht nur Norwegens über weite Entfernungen unberührte Natur, sondern setzt auch einen denkwürdigen Kontrapunkt zu den multimedialen Turbulenzen anderer Industrienationen. Auf die perforierten Aluminiumplatten des 15-mal-15-mal-15-Meter großen Raums hat Marianne Heske ein um den Faktor 2,5 Millionen vergrößertes Bild ihrer Heimat übertragen. Durch die extreme Vergrößerung hat es seine Gegenständlichkeit gegen abstrakt wirkende Farbtönungen eingetauscht. Zu hören ist nicht viel – gelegentlich kullert ein Stein über einen Geröllhang. Im norwegischen Pavillon bestätigt sich John Cages Wahrnehmung, dass es keine absolute Stille gibt. Noch einmal beherrscht Negation die äußere und innere Form eines ganzen Länderpavillons. Die Schweiz präsentiert sich in einem nach allen Seiten offenen Holzstapel. Wartezeiten für dieses Labyrinth gibt es nicht, doch dafür umso mehr Überraschungen für den erwartungsvollen Besucher. Während dieser zwischen den Holzwänden auf der Suche nach einem Zentrum wandert und dabei allerlei die Schweiz betreffende Gedanken als Wortprojekte sieht, bewegen sich Akkordeonisten und Hackbrettspieler in dreistündigen Schichten durch den Pavillon. Sie verwandeln ihn auf Geheiß des aus dem Appenzell gebürtigen Daniel Ott in eine tönende Skulptur. „Klangkörper Schweiz“ heißt der Pavillon folgerichtig. Er wird von Daniel Otts Musikern aber nicht nur mit dem durch „Ausbrüche“ gepfeffertem Grundklang, sondern auch durch Improvisationen gefüllt. Auch öffnen sich „Fenster“ – klingende Zeiten zwischen dreißig Sekunden und zwei Minuten, in denen jeder Musiker so „wie bei sich zu Hause“ spielt. Otts Klanginstallation öffnet sicht nach allen Seiten. Das Publikum kann nicht alles hören und sehen. Es wird immer überrascht und erlebt dann jeweils in der 39. Minute sogar, dass alle Mitarbeiter des „Klangkörpers“, selbst das gastronomische Team, eine Minute innehalten. Auch in „Freeze“ gibt es keine absolute Stille. Sie gab es auch nicht, als das Vogler-Quartett und der Schlagzeuger Peter Sadlo im Deutschen Pavillon John Cages berühmtes Schweigestück „4’33’’“ aufführten und diese bereits 1952 entworfene, doch seither in ihrer Brisanz nicht geminderte Komposition unter dem von Klaus Huber übernommenen Titel „Ein Hauch von Unzeit“ zwischen Weberns Bagatellen op. 9 und Moritz Eggerts etwas geschwätzigem Zweiteiler „Croatoan“ stellten. Wir sind mitten im ambitionierten Kulturprogramm des Deutschen Pavillons, und dieses hebt sich wohltuend von den dreißig Gipsköpfen im Haupteingangsbereich, dem sechsminütigen Panorama-Film mit Blick in deutsche Lebensgewohnheiten und dem zum Schluss des Rundgangs installierten Baum des Wissens ab. Während dort zwischen Gutenbergbibel, Bach-Cembalo, gläsernem Menschen und erstem VW-Käfer in schönster föderalistischer Manier weit ausgeholt und die nationalsozialistische Dunkelzeit ausgeblendet wird, drückt sich das nach August Everdings Tod von Peter Baumgardt weiter entwickelte Kulturprogramm nicht vor dieser Unzeit. „Musik 20“ heißt die von Alicja Monk in 20 Folgen konzipierte Konzertreihe, die unter anderem in Anspielung auf die Winterreise das gebrochene Verhältnis von nach außen oder innen emigrierten Komponisten zur deutschen Identität beleuchtete und dafür als Zeugen Hanns Eisler und Reiner Bredemeyer berief. Während der Länderwochen Thüringen akzentuierte sie unter dem Motto „Sag nicht keinmal, dass du gehst den letzten Weg...“ die direkte kompositorische Reaktion auf den nationalsozialistischen Terror und will mit der Uraufführung von 32 Auftragskompositionen die musikalische Gegenwart bilanzieren. Das gelingt mit unterschiedlichem Erfolg, wobei persönliche Vorlieben, Länder- oder Verlagsinteressen und schließlich die nur fünfmonatige Vorlaufzeit manches Defizit erklären. Gerade zwei oder – unter Einbeziehung der in Kooperation mit Helmut Oehring arbeitenden Iris ter Schiphorst – drei Komponistinnen wurden von „Musik 20“ beauftragt. Ab Mitte Oktober sollen Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Mauricio Kagel und Hans Werner Henze ganztägig porträtiert werden. Für Werke von Nicolaus A. Huber, Helmut Lachenmann und auch dem 70-jährigen Dieter Schnebel gilt Fehlanzeige. Auf der Habenseite von „Musik 20“ stehen bisher schon gewichtige Ur- und Wiederaufführungen. Nicolaus Richter de Vroes „Kafka Aggregat“ als rhythmisch unerbittlich skandierte Durchschrift umkreiste Kafkas „Prometheus“-Fragment und versuchte dieses mit Gesängen, instrumentalen Kommentaren und gesprochenen „Ratgebern“ zu durchleuchten. Georg Katzer verwandelte die Idee „Godot kommt doch, geht aber wieder“ in ein energiegeladenes Saxophonkonzert: nach einer markanten Kadenz entschwand das Soloinstrument wieder im Graben, aus dem es zuvor aufgetaucht war. Als Fußspur im Sand der jüdischen Überlieferung komponierte Jakob Ullmann das fast halbstündige Oktett „Kol“ mit einem gerade eben angedeuteten Zitat der „Kol nidrej“-Melodie. Zu melodienselig, fast zu gemütlich wäre der „Heimat“ betitelte Uraufführungsreigen der bayerischen Komponistenliga Minas Bourboudakis, Winfried Hiller und Wilhelm Killmayer ausgefallen, hätte sich nicht der Anti-Orff-Schüler Josef Anton Riedl mit der multimedialen Performance „Vollicht aus es sa“ für drei Sprecher, zwei Schlagzeuger und drei Filme dagegen gestemmt und für ein notwendiges Fragezeichen gesorgt. Zur Habenseite des deutschen EXPO-Kulturprogramms zählen schon im ersten Drittel Uraufführungen junger und jüngster Komponisten. Nachdem das Ensemble „L’art“ schon im letzten Jahr in Winsen/Luhe Kinder animiert hatte, Musik für ihre nähere Umgebung zu komponieren, wurden im Vorfeld der Weltausstellung hannoversche Kinder angeleitet, sich mit dem Expo-Thema „Mensch – Natur – Technik“ kompositorisch auseinander zu setzen, mit dem Ergebnis, dass Thomas Köhling in „Bleibt doch!“ für vier Sprecher, Regenmacher und fünf Instrumente die entwürdigende Behandlung von Ausländern verarbeitete und Nike Buchmann in „Naturplayback und Livemüll“ für Tonband und vier Spieler allerlei Umweltgewohnheiten mit gut eingesetzten Mitteln der konkreten Musik veranschaulichte. Die ebenfalls vom Deutschen Pavillon bis Ende Oktober veranstaltete Reihe „Theaterporträt“ servierte mehrere Sternstunden. Der Greifswalder Choreograf Ralf Dörnen faszinierte in seinem Tanztheater „Ich spinne mich in meiner Puppe ein ...“ mit einer Performance über Leben, Werk und Zeit des Malers Caspar David Friedrich. Das Volkstheater Rostock gastierte mit der deutschen Erstaufführung von Sergej Slominskis Oper „Der Meister und Margarita“. Vom Bühnentanz kommend inszenierte Arila Siegert diese Kammeroper, die sich von schaler Veroperung löst und immer wieder auf extrem kammermusikalische Gestik beschränkt, als beklemmende Choreografie von Raumdispositionen und Bewegungsabläufen. Matthias Pintscher spiegelte in „Gesprungene Glocken“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das von Michael Simon mit dem Ensemble des Nationaltheaters Mannheim inszenierte Musiktheater auf Woyzeck-Motive umkreiste zwar Büchners Welt, doch verzichtete es auch in der revidierten Fassung auf den roten Faden einer Handlung – eine Entscheidung, die im nachdenklichen Publikum das assoziative Gitter und die suggestive Wirkung von Musik verstärkten. Aufregend hatte Renate Ackermann zwei Standardwerke der 60er-Jahre inszeniert. Sie pferchte in Kagels „Match“ die beiden Violoncello-Kontrahenten Anke Heyn und Martin Ostertag und den kompetenten Schlagzeuger Raphael Haeger auf kleinstem Boxringraum zusammen und vervielfältigte in Ligetis absurdem Zweiteiler „Aventures“ – „Nouvelles Aventures“ das Publikum. Die unter Manfred Schreier phänomenal singenden „Neuen Vocalsolisten Stuttgart“ saßen dem realen Publikum als mit 3-D-Brillen ausgestattetes Kinopublikum gegenüber und spielten ihre Exaltationen vor dem Hintergrund eines auf die Bühnenrückwand projizierten noch größeren Kinopublikums. Als „Musiktheater mit Bühnenobjekten“ hatte Annette Schlünz „TagNachtTraumstaub“ zur Eröffnung des deutschen Kulturprogramms komponiert. In einem zentral über der Spielfläche hängenden Glashaus reflektiert der Schriftsteller Gundelach, wie ihn die Vergangenheit mit zwei Frauen zusammenführte. Er träumt in immer neuen Schüben vor sich hin und gewinnt erst ganz zum Schluss Bodenhaftung. Die beiden Frauen Hella und Flora aber haben längst mit der Vergangenheit abgeschlossen. Sie wünschen sich Glück für eine nicht erkennbare Zukunft. Annette Schlünz, die zusammen mit Ulrike Schuster und Matthias Roth auch das leicht verquaste Libretto schrieb, entwarf die aussagekräftige Musik im Gegensatz dazu als ein szenisches Mobile mit träumerischen „Verästelungen“ und die Traumeswirren unterbrechenden „Rissen“. In der Dämmerung gleitende Klarinetten- und Trompetentöne korrespondieren nahtlos mit den mobilen Käfigen der Figuren. Sie ziehen sich in abenteuerliche Behausungen zurück, doch weder das Glashaus noch ein Konstrukt aus Spindtüren, ein wellblechbedeckter Rollstuhl, ein Jalousienkäfig und ein stilisiertes Geäst boten beständigen Schutz. Am Schluss von „TagNachtTraumstaub“ regnet es wie schon zu Beginn. Helfrid Forons Inszenierung, Daniel Depoutots Bühnenobjekte und Kostüme, Herbert Cybuskas ganz auf gleißendes Licht verzichtende Ausleuchtung, Eberhard Klokes sensibles Dirigat und nicht zuletzt das ebenso präzise wie lustvolle Agieren der Solisten Siemen Rühaak, Christopher Lincoln, Matthias Weichert, Annette Elster, Isolde Siebert, der Flötistin Carin Levine, des Schlagzeugers Stefan Eblenkamp und des Neuen Ensembles Hannover verwandelten die später August-Everding-Saal getaufte multifunktionale Blackbox des deutschen EXPO-Pavillons in ein bezauberndes Traumhaus. Erst anlässlich der Länderwoche Baden-Württemberg brachte das Nationaltheater Mannheim das Motto „Augen auf. Ohren auf. Mund auf.“ nach Hannover. Es fungierte schon zur Eröffnung des deutschen Kulturprogramms als geheime Aufforderung.

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