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Ausstellungsobjekt in einer Monstershow

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Petitgirard: „Joseph Merrick dit Elephant Man“ an der Staatsoper Prag
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Sind die avantgardistischen Ansätze in der Oper tot? Der 1950 geborene französische Komponist Laurent Petitgirard, der unter anderem auch Filmmusik zur Maigret-Fernsehserie geschrieben hat, tut sogar so, als hätte es sie nie gegeben. Das große Gefühl war für ihn nie aus den Opernhäusern verschwunden und Petitgirard hatte mit der Geschichte des so genannten Elefantenmannes einen zugleich gesellschaftskritischen wie emotionsträchtigen Stoff gewählt. Die Schöne und das Biest oder Kasper Hauser mögen Pate gestanden haben. Joseph Merrick, der „Elephant Man“ jedenfalls hat heute Konjunktur.

Sind die avantgardistischen Ansätze in der Oper tot? Der 1950 geborene französische Komponist Laurent Petitgirard, der unter anderem auch Filmmusik zur Maigret-Fernsehserie geschrieben hat, tut sogar so, als hätte es sie nie gegeben. Das große Gefühl war für ihn nie aus den Opernhäusern verschwunden und Petitgirard hatte mit der Geschichte des so genannten Elefantenmannes einen zugleich gesellschaftskritischen wie emotionsträchtigen Stoff gewählt. Die Schöne und das Biest oder Kasper Hauser mögen Pate gestanden haben. Joseph Merrick, der „Elephant Man“ jedenfalls hat heute Konjunktur. Kolportiert wurde sogar, dass Michael Jackson seines Skeletts habhaft geworden war, was freilich nicht stimmt. Aber das auf grotesk wie fatal erschreckende Krüppelwesen – es soll geistig offenbar völlig wach und feinfühlig gewesen sein, was die Erfahrung des Monströsen entscheidend vertieft – zog in den letzten Jahren als Schauspiel auf die Bühne, David Lynch verfilmte vor zwanzig Jahren seine Geschichte, letztes Jahr tauchte es in London als Musicalgestalt auf. Letzte Überhöhung: die Oper. Denn unsere Gesellschaft, die von medial getragener Sensationsgier und Paparazzi-Lust das Subjekt in die Enge einer allzu offenen Öffentlichkeit drängt, verlangt danach.

Laurent Petitgirard versteht sein Geschäft. Von 1995 bis 1998 hat er an „Joseph Merrick dit Elephant Man“ komponiert, danach entstand eine CD, jetzt wurde sie an der Staatsoper Prag im Rahmen eines Frankreich-Projekts (Opern aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert) uraufgeführt; in Koproduktion mit Nizza und Lübeck, wo das Stück in diesem oder im kommenden Jahr nachgespielt wird. Kompositorisch bewegt sich Petitgirard dabei in einem ausgesucht sicheren Fahrwasser. Ästhetisch liegen Binnenlandschaften eines Musicals zugrunde, die Musik liebt die Emphase der kurzen Kantilenen und greift immer wieder auf für jedermann nachvollziehbare leitmotivische Wendungen zurück. Der Gesang wird durchweg eins zu eins geführt, jede Silbe bekommt einen Ton, die Linien sind schlicht und spontan nachsingbar geführt. Gleichwohl umschifft Petitgirard geschickt die Klippen der Trivialität, obwohl sich die Musik beständig in dieser Landschaft tummelt. Denn das Tempo stimmt, zügig wird die Story vom Leben Joseph Merricks erzählt. Er ist zunächst Ausstellungsobjekt in einer herumreisenden Monstershow, dann gehört ihm das Interesse der Medizin. Die Krankenschwester Mary lässt ihn menschliche Zuneigung, Liebe erfahren. Die Zeitung Times verschafft ihm sogar Reichtum und gesellschaftliches Ansehen, ein goldener Käfig, den auch die intensiv mit dunkel getönten Farbwerten arbeitende Regie von Daniel Mesguich herausstreicht (die Lagerstatt Merricks ist der umgebaute Käfig der Monstershow).
Das Timing also stimmt und hiermit hat Petitgirard eine der Haupthürden neuen Musiktheaters genommen. Die tonal abgesicherte Musik macht den Text deutlich. Das farbig, meist ausgesucht sparsam mit rasterfahndungsartigen Instrumentalcharakteren geführte Orchester unterstreicht die Gesangslinien, hebt sie in verschiedenen Schraffurmustern hervor. Die Rhythmik mit griffigen metrischen Überlagerungsstrukturen hält alles am Laufen. Und Petitgirard gelingt es, die Kargheit des Laufenden immer wieder so aufzumöbeln, dass Löcher oder ein Absacken der Spannungskurven vermieden werden. Denn die Partitur ist wendig, nimmt Anleihen bei Poulenc bis Strawinsky, schielt auf Gershwin, Phil Glass aber auch auf Ligetis „Le Grand Macabre“, und wahrt zugleich Eigenständigkeit. Was die Bedingungen von Theatermusik sind, das ist Petitgirard immer bewusst. Und es ist Zeichen französischer Abgeklärtheit, dass er diese nie in reflektorische Tiefen abzusenken sucht. Denn dafür ist die Story (Libretto nach Originalberichten von Eric Nonn) selbst zuständig.

Es ist keine Oper, die visionäre Zeichen setzt, aber es eine, die den Betrieb illuster am Laufen hält. Eine Koloraturarie einer Schauspielerin (Anna Ivanova Todorova), die ihre Kontakte zu Merrick der eigenen Karriere nutzbar machen will, treibt in grotesk Exaltiertes, der Contraalt Merricks (eindringlich: Jana Sýkorová) bildet menschlich-tragischen Humus. Petitgirard dirigierte selbst und er wusste das Orchester der Staatsoper Prag, die in den letzten Jahren rege aus einem Schattendasein ausbricht, plastisch mit markanten Farbwerten zu führen.

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