Grenzüberschreitung in jeder Hinsicht ist ein konstitutives Merkmal von Mauricio Kagels vielseitigem Schaffen. Sie zeigt sich von der Öffnung der Konzertsituation zum ins-trumentalen Theater über das Experimentieren mit Klangerzeugern und Tonsystemen bis zum Einbezug von Alltagsphänomenen und entfernten Traditionen. Da scheint ein Instrument wie das Klavier nichts verloren zu haben; seine starre Mechanik und fixe Stimmung, so könnte man vermuten, stehen Kagels ästhetisch offenem Denken entgegen.
Doch nichts falscher als das. Vom unbeweglichen Kasten fühlte sich Kagel, Liebhaber des paradoxen Denkens, im Wortsinn beflügelt. Wie das im Einzelnen geschehen ist und wie es sich auf Kagels Gesamtschaffen ausgewirkt hat, ist Gegenstand einer gründlichen Arbeit der Münchner Musikwissenschaftlerin Pia Steigerwald. Der emblematische Titel der Publikation, übernommen von einem Klavierstück Kagels, lautet „An Tasten“ und steht für die experimentelle Offenheit, die Kagels kompositorischen Zugriff auf das Instrument prägt: Klavierspiel nicht als bloßes Tastendrücken, sondern als Methode mit dem Ziel, die instrumentaltechnischen, physiologischen, historischen und sozialen Implikationen dieses bürgerlichen Klangmöbels kompositorisch wahrnehmbar zu machen. Grenzüberschreitung also auch hier.
Aus der umfangreichen und detailgenauen Studie wird ersichtlich, dass die neun eigenständigen Klavierwerke, die von ihren Entstehungsdaten her die ganze Schaffenszeit überspannen, bruchlos in Kagels organisch wucherndes Klanguniversum integriert sind, mehr noch: dass sie eine Art verdeckten Hauptstrang bilden, in dem sich seine künstlerische Entwicklung beispielhaft abbildet. Unterstützt wird diese Beobachtung durch die Tatsache, dass die Tasteninstrumente auch in vielen Mischbesetzungen eine wichtige, oft solistische Rolle spielen.
Die Werke werden mit großer Sorgfalt analysiert und im Kontext des Gesamtwerks kompetent kommentiert. Detailuntersuchung und der Blick aufs Ganze ergänzen sich auf glückliche Weise und ermöglichen tiefe Einblicke in Kagels kompositorische Strategien. Der Nutzen für den Leser und Musikhörer ist eklatant: Man erfährt, dass sich hinter der oft verwirrenden Klangerscheinung eine komplexe Logik verbirgt, und bekommt einen Eindruck von den untergründigen Querverbindungen und Konstanten, die Kagels Werk durchziehen.
Den Hauptteil mit den Werkporträts gliedert Pia Steigerwald in vier Abschnitte, entsprechend den vier großen Schaffensphasen des Komponisten: Das argentinische Frühwerk mit den hier erstmals vorgestellten, zwölftönig konzipierten „Cuatro piezas para piano“ von 1954, sodann die europäischen Jahre ab 1957, in denen Kagel alle neuen Einflüsse aufsog und experimentell verarbeitete und damit die Basis für sein ganzes weiteres Schaffen legte; die dritte Phase ab 1970 fällt in die beginnende Postmoderne und ist gekennzeichnet durch den kritischen Umgang mit Konventionen und Traditionen. Die vierte Phase ab 1990 wird charakterisiert durch „Rückgriffe auf vergangene Tastenkulturen“ und eine Neubewertung des Begriffs der autonomen Musik.
Mit ihren Untersuchungen fördert die Autorin viel unbekanntes Material zutage, ein Ergebnis ihrer Quellenstudien im Paul-Sacher-Archiv in Basel, wo Kagels Nachlass liegt. So wird neben den frühen „Cuatro piezas“, die bisher als verschollen galten, auch ein unbekannter Briefwechsel mit John Cage vorgestellt. Im Rahmen der Analysen kommt das spannungsvolle Verhältnis des Theoretikers Kagel zum Komponisten Kagel ebenso zur Sprache wie seine lebenslange Affinität zum Serialismus, was sich im Spätwerk im methodischen Ansatz einer „seriellen Musik mit tonalen Elementen“ manifestiert. Als zentrale Kategorien seines Schaffens schälen sich im Zuge der Untersuchungen der Übergang – explizit thematisiert in einem Werk wie „Transición II“ von 1958/59 – und das Verfahren der Etüde heraus: Die Etüde – das Üben – als ein „die Werkidee unterlaufendes Element“, als Symbol des experimentellen Lernens und der Arbeit am Klang.
Bei aller wissenschaftlichen Gründlichkeit ist die Publikation stets gut lesbar, und für Lebendigkeit sorgen auch die im Anhang dokumentierten Gespräche der Autorin mit dem Komponisten und den beiden Pianisten Luk Vaes und Paulo Álvarez. Die Erstveröffentlichung einer akribischen Analyse von Karlheinz Stockhausen zu „Transición II“ rundet den Band ab, der mit seinem Informationsreichtum für die weitere Kagelforschung wie für die Musikpraxis von hohem Wert ist.
Pia Steigerwald: „An Tasten“. Studien zur Klaviermusik von Mauricio Kagel (sinefonia 15), Wolke Verlag, Hofheim am Taunus 2011, 328 S., € 38,00, ISBN 978-3-936000-75-7