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Eine Analyse des Kulturtransfers der russischen Musik nach Westeuropa
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Ziel des vorliegenden Buches ist es, anhand von Fallstudien „den Kulturtransfer der russischen Musik nach Westeuropa zu analysieren, ihre Präsenz und Wahrnehmung in verschiedenen europäischen Ländern zu vergleichen“. (S. 14) Insgesamt 16 Beiträge internationaler Autoren blättern dabei ein buntes Themenspektrum auf. Es kommen sowohl wichtige Mittlerfiguren zur Sprache, als auch einzelne Gattungen, dann auch ausgewählte Länder, Städte, Epochen und Werke.

Russische Musik wurde eigentlich erst seit den 1860er-Jahren als eigene Größe von außen wahrgenommen. Zu ihren ersten Vermittlern und Fürsprechern im deutschen Sprachraum gehörten Franz Liszt und Hans von Bülow. Schon früh hatte Liszt Werke von Michail Glinka und Anton Rubinstein kennengelernt, später, in seiner Zeit als Weimarer Hofkapellmeis­ter, kamen Schöpfungen der Neuen Russischen Schule und Peter Tschaikowskys hinzu. Liszt begriff diese Musik, wie Dorothea Redepenning in ihrem Beitrag „Franz Liszt als Mediator russischer Musik in Westeuropa“ ausführt, letztlich in der „Perspektive einer multinationalen Musikkultur“ (S. 17) – das heißt nicht vordergründig als nationale Musik, mochte sie auch aus nationalen Impulsen Inspiration bezogen haben. Entscheidend war für ihn ihr künstlerischer Rang: „In diesem Rahmen hat er auch zur Wahrnehmung russischer Musik in Westeuropa maßgeblich beigetragen.“ (S. 31) Hans-Joachim Hinrichsen thematisiert „Hans von Bülows ambivalentes Verhältnis zur russischen Musik“ in Abhängigkeit von dessen musikalischem Weltbild. Hatte von Bülow als Anhänger Richard Wagners und der Neudeutschen Schule anfangs (1858) noch Michail Glinkas Oper „Ein Leben für den Zaren“ als „specifisch russisch“ empfunden, das heißt als ungewöhnlich und originell, (S. 37), reklamierte er das Werk später (1874), nach dem Bruch mit Wagner, als „deutsche Musik“, das heißt als im akademischen Kontrapunkt gut gearbeitete, universale Musik. (S. 38) Interessant ist auch die Haltung zu Anton Rubinstein: Konnte von Bülow unter „neudeutscher Prägung“ der Musik Rubinsteins zunächst noch ein „dichterisches Element“ zusprechen (1858), wurde daraus später, im Zuge seiner Hinwendung zu Brahms, eine generelle Abneigung gegen den Komponisten (mit dem Vorwurf mangelnder Durcharbeitung seiner Musik). Nicht Bülows Engagement für russische Komponisten wie Glinka, Tschaikowsky und anfangs auch Rubinstein als solches ist entscheidend, sondern dass er durch sein Wirken als Interpret einem analytisch-strukturellen Rezeptionsparadigma Vorschub leistete, was einer breiten Rezeption russischer Musik güns­tige Voraussetzungen bereitete. (S. 47)

Marina Raku spürt den Beziehungen Peter Tschaikowskys zu dem international vernetzten Hamburger Impresario Bernhard Pollini (1838−1897) nach. Dieser trug wesentlich zur Popularisierung der Werke Tschaikowskys, aber auch anderer russischer Komponisten (Anton Rubinstein), im Westen bei.

Der Präsenz und Wahrnehmung der symphonischen Musik russischer Komponisten (u.a. Balakirew, Glinka, Rubinstein, vor allem aber Tschaikowsky) in Leipzig widmet sich der Beitrag von Stefan Keym. Auch wenn diese seit den späten 1880er-Jahren als durchaus „eigenes Phänomen“ (S. 103) rezipiert wurde, blieb doch ihre Aufnahme eher verhalten – was weniger deutsch-nationalen Vorbehalten geschuldet war als der Verpflichtung einem „Leipziger Klassizismus“ gegenüber, der neuartige und kühne Aneignungen der symphonischen Tradition eher als „Verstoß“ und „Abweichung“ registrierte denn als „heilsame Auffrischung“ (S. 104) – eine Haltung, die sich offenbar ebenso auf die Kritik wie das breite Publikum erstreckte.

Der Weltruhm des bedeutenden ungarischen Dirigenten Arthur Nikisch, der unter anderem als Gewandhaus-Kapellmeister in Leipzig und seit 1895 als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wirkte, gründet sich zu einem nicht geringen Teil auf seine Interpretationen der 5. und 6. Symphonie Tschai­kowskys. In Russland gilt Nikisch – nach eindrucksvollen Moskauer und St. Petersburger Gastkonzerten im Jahre 1896 – bis in die Gegenwart als ein wichtiger Vermittler der russischen Musikkultur, und auch im Westen ist Nikischs Interpretationskunst häufig an die Vorstellung einer besonderen Pflege des russischen Repertoires gebunden. Stefan Weiss kommt indes zu dem Befund, dass es sich bei Nikischs Spezialistentum für die russische Musik eher um ein Missverständnis handelte, insoweit Nikisch durch sein Tschaikowsky-Engagement „möglicherweise gerade […] andere Seiten russischer Musik aus der Wahrnehmung der deutschen Konzertgänger [ausblendete]“. (S. 129)

Gustav Mahler dirigierte wiederholt die Musik Peter Tschaikowskys, was die Frage einer kompositorischen Tschaikowsky-Rezeption nahelegt. Auf Nachweise im Einzelnen reagiert Wolfram Steinbeck skeptisch: Hinsichtlich der Vorliebe für „Folklorismen“ müssten eher die Unterschiede betont werden, seien sie doch bei Tschaikowsky der Ausdruck „national gedachter Identitätsstiftung“, bei Mahler aber „Mittel und Gegenstand der Verfremdung“. (S. 142) Über mögliche Parallelen hinaus wäre es viel wichtiger, Tschaikowskys „eigene kompositorische Leistung als solche mehr noch als bisher geschehen in den Blick zu nehmen.“ (S. 147)

Weitere Beiträge gelten dem russisch-schweizerischen Komponisten und Musikpädagogen Paul Juon (Helmut Loos), dem bedeutenden russisch-schweizerischen Musikwissenschaftler Jacques Handschin (Janna Kniazeva) und dem baltendeutschen Musikwissenschaftler und -journalisten Oskar von Riesemann (Anna Fortunova). Alle drei haben Wesentliches zur Propagierung russischer Musik im Westen beigetragen. An dieser Stelle eine Korrektur: Dass der 1934 in London erschienene Band „Rachmaninoff’s Recollections told to Oskar von Riesemann“ bei Sergej Rachmaninow auf „Anerkennung“ gestoßen seien, ist alles andere als zwingend. (S. 177) Im Gegenteil: Rachmaninow missbilligte dieses Buch entschieden, weil es ihm allzu viele schiefe und falsche Äußerungen in den Mund legte. Dass die Übersetzung des Titels ins Russische (Moskau 1992) in Russland „zu einer der wichtigsten biographischen Quellen zu Rachmaninov geworden“ sei (S. 177), ist eine Fehleinschätzung.

Serge Koussevitzky gilt zu Recht als einer der wirkungsmächtigsten Förderer russischer Komponisten und Interpreten in den USA. Christoph Flamm vermag diese Vorstellung aus souveräner Quellenkenntnis zu weiten: Der Dirigent war keinesfalls nur ein Anwalt alles Russischen, sondern vermittelte eine „unerschöpfliche Neugier auf Musik jeglicher Couleur − im Bewusstsein einer umfassenden, entgrenzenden Einheit aller Musik überhaupt“. (S. 205)

Steven Baur leistet eine Gegenüberstellung von Modest Mussorgskys Klavierwerk „Bilder einer Ausstellung“ mit seiner Orchesterfassung durch Maurice Ravel – mit allerlei Detailbeobachtungen und -einsichten in das Verhältnis von russischer und französischer Musikkultur.

Die romanischen Länder finden Berücksichtigung mit „Überlegungen zur Rezeption russischer Opern in Italien“ (Vincenzina Ottomano), Einzelheiten zur Tschaikowsky-Rezeption in Frankreich (Lucinde Braun), historiographischen und rezeptionsgeschichtlichen Exkursen zur Verbreitung russischer Musik in Frankreich (Inga Mai Groote) sowie Erläuterungen zu den von den Ballet Russes ausgehenden Impulsen auf das Pariser Musikleben (Roland Huesca).

Das Buch zeichnet sich durch vielfach spannende Zugänge und großen Materialreichtum aus; als Studie zum Kulturtransfer der russischen Musik nach Westeuropa ist es hoch anregend und beispielgebend. Der Leser begegnet einer Fülle von Russland-Bildern und Abbildern, die sich unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen konstituierten – und damit für die Nachwelt ein breites Feld an Projektionen und Deutungsmöglichkeiten bereithalten.

  • Russische Musik in Westeuropa bis 1917. Ideen – Funktionen – Transfers, hrsg. v. Inga Mai Groote/Stefan Keym, edition text+kritik, München 2018, 326 S., Abb., Notenbspiele, € 44,00, ISBN 978-3-86916-702-2

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