Hauptbild
Über 30 Jahre lang hat Harnoncourt das Festival Styriarte mit Konzerten und Opernproduktionen geprägt. Die diesjährige Ausgabe vom 24. Juni bis 24. Juli wird nun ganz im Zeichen des Gedenkens an den verstorbenen Dirigenten stehen. Foto: Werner Kmetitsch
Über 30 Jahre lang hat Harnoncourt das Festival Styriarte mit Konzerten und Opernproduktionen geprägt. Die diesjährige Ausgabe vom 24. Juni bis 24. Juli wird nun ganz im Zeichen des Gedenkens an den verstorbenen Dirigenten stehen. Foto: Werner Kmetitsch
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Blick zurück in die Zukunft des Musiklebens

Untertitel
Was von den Visionen des Klangredners Nikolaus Harnoncourt bleibt · Von Juan Martin Koch
Publikationsdatum
Body

„Meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne“: Mit einem offenen Brief hatte Nikolaus Harnoncourt sich Anfang Dezember des vergangenen Jahres von seinem Publikum verabschiedet, drei Monate später, am 5. März, verstarb der österreichische Dirigent, Gambist und Cellist in Sankt Georgen. [Vorab aus der nmz 4/2016]

Man überschätze die Interpreten und unterschätze die Schaffenden, hat Harnoncourt einmal gesagt, und in dreißig Jahren werde man über das lachen, was heute interpretatorisch passiere. Dabei hat er wohl wie kaum ein anderer mit seiner Arbeit und seiner Haltung das Musikleben der letzten Jahrzehnte geprägt und verändert. Anfang der 1980er-Jahre löste er mit seiner Textsammlung „Musik als Klangrede“ Debatten aus, im Rückblick lässt sich daran ablesen, wie Harnoncourts Anregungen wirksam wurden:

„Erst seit wir die Musik als Ganzes gar nicht mehr verstehen konnten und vielleicht auch nicht mehr verstehen wollten, war es uns möglich, sie auf ihre Schönheit zu reduzieren, sie gleichsam glattzubügeln.“

Lange hatte Harnoncourt als Cellist der Wiener Symphoniker dieses Phänomen schon gespürt, ehe schließlich 1969 eine weitere dieser gefälligen Aufführungen von Mozarts großer g-Moll-Symphonie das Fass zum Überlaufen brachte. Die Diskrepanz zwischen dem, was er in der Partitur erkannte, und dem, was er hätte spielen sollen, war einfach zu groß geworden. Er gab seine Orchesterstelle auf und konzentrierte sich ganz auf die Arbeit mit seinem Ensemble, das er 1953 gründete und das ab 1957 als Concentus Musicus auftrat. Dessen Einspielungen schrieben Tonträgergeschichte und warfen das damalige Hörbild von Renaissance- und Barockmusik über den Haufen. Manche der damals als revolutionär empfundenen Schroffheiten hatten allerdings auch mit der noch nicht ausgereiften Spieltechnik der historischen Instrumente zu tun. Mit deren Verfeinerung hat der Klang der Spezialensembles mittlerweile einen Perfektionsgrad erreicht, der oftmals einen nicht minder glattgebügelten Eindruck macht. Gleichzeitig degenerierte die Gegen-den-Strich-Bürste in den Händen einiger Trittbrettfahrer auch zum Marketinginstrument.

„Für uns bedeutet das ein umfangreiches Studium, aus dem man in einen gefährlichen Fehler verfallen kann: die Alte Musik nur vom Wissen her zu betreiben. So entstehen jene musikwissenschaftlichen Aufführungen, die historisch oft einwandfrei sind, denen aber jedes Leben fehlt. Da ist eine his-torisch ganz falsche, aber musikalisch lebendige Wiedergabe vorzuziehen.“

Bei aller Akribie, mit der Harnoncourt aufführungspraktische Quellen, historische Instrumente und den Notentext selbst erkundete, und bei allem Überzeugungswillen, der bisweilen in Zeigefinger-Interpretationen münden konnte, war ihm nie an Dogmen gelegen. Dass es eine „authentische“ Wiedergabe nicht geben kann, war Harnoncourt immer bewusst. So viel wie möglich über Aufführungsbedingungen der Entstehungszeit zu wissen, bildete vielmehr den Hintergrund, um Werke von Gestern mit einer heutigen Relevanz aufladen zu können. Die Entscheidung, auch mit modernen Klangkörpern wie dem Concertgebouw Orchester Amsterdam und den Berliner Philharmonikern oder dem auf modernen Streich-, aber historischen Blasinstrumenten spielenden Chamber Orchestra of Europe zu arbeiten und mit diesen ins 19. und 20. Jahrhundert vorzustoßen, war eine Konsequenz dieser Einstellung. Ihr ist die Selbstverständlichkeit zu verdanken, mit der viele Orchester heute in der Lage sind, Haydn und Schubert auf andere Weise gut zu spielen als Brahms und Tschaikowsky.

„Schließlich müssen wir, über so verstandene Musik eines Monteverdi, Bach oder Mozart, wieder zur Musik unserer Gegenwart finden, die ja unsere Sprache spricht, unsere Kultur ist und weiterführt.“

Obwohl der Concentus Musicus mit dem schnell verworfenen Anspruch gegründet wurde, 50 Prozent alte und 50 Prozent zeitgenössische Musik zu spielen, und die erste, zweisätzige Version von Luciano Berios Schubert-Kommentar „Rendering“ unter seiner Leitung uraufgeführt wurde, blieb Harnoncourt der Neuen Musik gegenüber immer in der Rolle des distanzierten Beobachters. Dabei war er davon überzeugt, dass ein ganz überwiegend von Vergangenem zehrendes Musikleben nicht der Idealzustand sein kann. Seine Vision, daran über den Umweg einer Neuentdeckung der Alten Musik etwas ändern zu können, hat sich zu seinen Lebzeiten allerdings nicht bewahrheitet. Was Harnoncourt als charismatischer Vermittler auch auf diesem Gebiet hätte erreichen können, lässt sich nur erahnen, etwa am Beispiel seiner moderierten Aufführung des erhaltenen Materials zum Finale von Anton Bruckners neunter Symphonie oder anhand der dank seiner Neugier rekonstruierten „Symphony of Noise“ aus George Gershwins „Porgy and Bess“.

„Die technische Beherrschung der Musik allein genügt nicht. Ich glaube, nur wenn es uns gelingt, den Musiker die Sprache, oder besser die vielen Sprachen der vielen musikalischen Stile wieder zu lehren und im selben Maß auch die Bildung des Hörers zum Verständnis dieser Sprache zu erreichen, wird eines Tages dieses stumpfsinnig-aesthetisierende Musizieren nicht mehr akzeptiert werden, genausowenig wie die Eintönigkeit der Konzertprogramme. […] Und als logische Konsequenz davon wird dann auch die Trennung von ‚Unterhaltungs-‘ und ‚Ernster‘ Musik und schließlich auch von Musik und Zeit verschwinden und das kulturelle Leben wieder zu einer Gesamtheit verschmelzen.“

Von Nikolaus Harnoncourts produktivem Blick zurück in die Zukunft mag auch das 21. Musikjahrhundert noch für einige Zeit zehren. Man darf es allerdings nicht dabei belassen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!