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Corona und kein Ende

Untertitel
Betrachtungen eines freiberuflichen Künstlers
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Von Tempo 120 Prozent auf fast Null - das war schon eine Bremsung der besonderen Art im abgelaufenen Jahr. Zugegeben: am Anfang empfand ich sogar Erleichterung. Erstmals wurde die Steuererklärung pünktlich fertig. Auch in der Buchhandlung kauften wir ein paar Bücher mehr ein als sonst und ganz viele Noten. Wir hatten ja auf einmal Zeit. Die Menschen um uns herum waren friedlich und entspannt. Was dann folgte, hat jeder selbst erlebt und der Zustand wird allmählich unerträglich. Immer wieder und immer häufiger greift man zum Endgerät in die digitale Verwirrwelt und forscht nach Neuigkeiten. Aber man findet nur die alte deutsche Ängstlichkeit, unheilvoll gepaart mit verlässlich versagender Bürokratie. Und man stößt immer wieder auf eine offenbar tiefsitzende, gleichgültige Geringschätzung von Kunst und Künstlern bei den Bestimmern aller Art. Kurz und wenig gut – es gibt auf dieser Seite nichts zu berichten aus den acht Bundesländern. Deshalb habe ich mir einen Gast geholt, dessen Aktivitäten auf Facebook und Instagram ich seit geraumer Zeit interessiert verfolge und dessen Ansichten ich für lesenswert halte. (Thomas Heyn)

Das Thema Corona ist für uns künstlerische Freiberufler, ähnlich wie für Gastronomen und andere Betroffene, vielfach katastrophisch und unübersichtlich. Es ist noch nicht möglich, den Umfang des Desasters zu ermessen – weder ist klar, wie es für viele von uns persönlich weitergehen kann, noch, welche Folgen der ganze Kulturbetrieb letztlich verkraften muss. Die Lasten der Pandemie – so viel steht jetzt schon fest – sind höchst ungleichmäßig verteilt, auch innerhalb des Kulturbetriebs. Festangestellte sind in der Regel weniger betroffen als frei arbeitende Kollegen, diejenigen, die primär von Unterricht und Lehre leben, weniger als hauptsächlich Konzertierende. Gerade bei uns Freiberuflern gibt es oft sehr individuell aufgefächerte Berufswege – die Hilfsangebote des Staates waren vielfach nicht an unseren Lebenswelten orientiert, viele fielen hier durchs Raster.

Verheerender Einbruch

Man hatte den Eindruck, dass der Kulturbranche insgesamt und insbesondere uns als künstlerischen Freiberuflern von Seiten der Politik und Gesellschaft nicht die Wertschätzung entgegengebracht wurde, die wir aufgrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung der Branche verdient haben. „Kunst und Kultur“ spielen als Wirtschaftsfaktor global in der Liga von Automobil- oder Pharmaindustrie. Der Einbruch, insbesondere bei den darstellenden Künsten beziehungsweise Bühnen-Künsten, ist verheerend. Belegt wird das von vielen aktuellen Untersuchungen, etliches kann ich dazu auch aus eigener Anschauung berichten. Für diejenigen, die von Auftritten leben, bestehen seit fast einem Jahr katastrophale Einschränkungen bis hin zu einem mehrmonatigen vollständigen Berufsverbot. Ich selber habe von März 2020 bis heute (außer zwei kleineren Konzerten im Herbst, die mit Hygienekonzepten stattfinden konnten) sämtliche Auftritte verloren. Die November- und Dezemberhilfe, die ich erhalten habe, ersetzen den Schaden nur zum kleinen Teil. Auch die Kompositions-Tätigkeit ist betroffen – Konzertkompositionen entstehen zumeist anlass- oder projektbezogen. Wenn es keine Konzerte geben kann, sind keine neuen Werke gefragt, auch Tantiemen fallen nicht an. Längere Zeit wusste ich bei einer Arbeit für Orchester nicht, ob die Aufführungen jemals stattfinden werden. Trotzdem musste natürlich all die Arbeit getan werden – und dann galt es nochmal alles für verkleinertes Orches­ter umzuschreiben, aber auch diese „Corona-Version“ fiel dem Lockdown zum Opfer. Der Auftraggeber war in diesem Fall sehr anständig und die Sache wird nachgeholt – das ist nicht selbstverständlich! Das „Nachholen“ indes zwiespältig: Wenn alles, was ausfiel, nachgeholt werden könnte, würde jahrelang nichts mehr Neues passieren. Wie wir uns nach Corona aufstellen können, ist ungewiss. Kaum ein Veranstalter ist derzeit bereit, neue Konzerte oder Projekte auszumachen, vielen steht das Wasser bis zum Hals.

Wie sollen wir mit so einer Situation umgehen? Der Impuls der weniger stark betroffenen Mehrheitsgesellschaft war immer wieder der, dass man uns Egoismus und Jammerei vorwarf. Denn was zählen schon unsere Kunst und unsere Lebensentwürfe gegen die Menschen, die elend in überlas­teten Intensivstationen sterben? Wir sollten doch froh sein, in einem Land wie Deutschland zu leben. Und: Augen auf bei der Berufswahl. Der soziale Druck war derart stark, dass man jedwede Kritiker der Regierungspolitik mit moralischen Vorwürfen und Totschlag-Argumenten überzog. Auch wurde versucht, Kritiker gar als „Corona-Leugner“, „Verschwörungstheoretiker“ oder „AfD-nah“ zu diffamieren. Die Zerwürfnisse gingen hinein bis ins Private, selten habe ich so maßlose und teils gehässige Diskussionen erlebt wie im Laufe des letzten Jahres. Meine Antwort: Natürlich bin ich froh, in Deutschland zu leben, allein wegen unserer großen und vielfältigen Kulturlandschaft. Aber die ist nun existenziell in einem Maße gefährdet wie seit Jahrzehnten nicht, und sie muss verteidigt werden. Die Folgen der Corona-Lockdowns ziehen eine Schneise der Verwüs­tung durch die vielgerühmte Kulturnation. Laut einer aktuellen Meldung des Berliner Tagesspiegels ist ein Drittel der freiberuflichen Musiker der Stadt schon soweit, den Beruf aufgeben zu müssen. An dieser Stelle der Diskussion wird üblicherweise gekontert, Musiker seien ja ohnehin prekär aufgestellt. Doch so ziemlich jeder Berufszweig wäre in so einer Situation gefährdet auszutrocknen. Die Schuld dafür auf die Lebensmodelle der Künstler abzuwälzen, finde ich infam. Niemand konnte mit solchen Berufsverboten rechnen. Manche Veranstaltungen, die ausreichende finanzielle und weitere Grundlagen dazu hatten, fanden als „Online-Event“ statt. Ich konnte selbst bei solchen Events mitwirken und bin dankbar dafür – schon der gute Wille der Veranstalter war eine Wohltat. Allerdings hat diese Krisenzeit gezeigt, dass Online-Events kein Ersatz für Live-Veranstaltungen sein können. Aus Sicht des Künstlers und des Publikums fehlt bei gestreamten Veranstaltungen alles, was wichtig ist. In einer Welt, in der wir derart viel Zeit vor Bildschirmen verbringen, ist die Live-Situation, und nichts anderes, das Besondere und Wertvolle. Das gilt erst recht bei dieser Inflation von online verfügbaren Inhalten und einem fehlenden gesellschaftlichen Bewusstsein dafür, dass auch für Online-Kultur jemand bezahlen muss.

Die Kluft in der Pandemie-Wahrnehmung besteht wohl nicht nur zwischen wohlversorgten Besitzstandswahrern, die auf penetrante Art das „Positive der Krise“ gar als „Entschleunigung“ feierten und der Welt von uns gebeutelten Musikern. Ein tieferer Bruch hat sich aufgetan. Im vorherrschenden techno-szientistischen Mainstream und seiner öffentlichen Kommunikation ist manches verdächtig geworden, was Kunst und uns Künstler auszeichnet. Dazu gehören schöpferische Perspektiven, ein mitunter radikaler Subjektivismus und Individualismus des künstlerischen Prozesses. Das Leitbild des autonomen Individual-Künstlers ist ein Ergebnis der europäischen Aufklärung und Ausdruck von Würde sowie Selbstbehauptung des „Ichs“ gegen das Kollektiv. „Masse und Macht“ manifestieren sich dagegen heute neu oft in Form von schein-objektiven Tabellen und Statistiken mit vorgeschriebenen Deutungsmustern. Zusammen mit der Kultur fällt die Perspektive des emanzipierten Subjekts hinten runter. Bei den merkwürdig selektiv geführten Debatten hatte ich mitunter den Eindruck, dass auch tiefere, schwer fassbare Vorbehalte gegenüber unserem Bereich mit von der Partie waren. War der überscharfe Kultur-Lockdown womöglich Ausdruck einer seltsam-protes­tantischen Verzichts-Ethik, wurde Corona gar zur Rachegöttin eines neuen Typs von kulturfernem Hygiene-Spießer? Muster kamen mir bekannt vor.

Konzepte mit Abstand

Die Verantwortlichen haben sich nie wirklich die Mühe gemacht, den Kulturlockdown, der jetzt bereits seit November gilt, zu begründen. Es gab schon letztes Jahr verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zu Infektionswegen in Theater- und Konzertsälen. Basierend auf daraus abgeleiteten Sicherheitsmaßnahmen war auch vorübergehend ein eingeschränkter Spielbetrieb mit weniger Publikum, größeren Abständen, Lüftungspausen und so weiter möglich. Viele Veranstaltungsorte tätigten in dieser Lage massive Investitionen, scheuten keine Kosten und Mühen. Tatsächlich ist im ganzen Jahr 2020 kein einziger Infektions-Hotspot im Rahmen von Kulturveranstaltungen mit Hygiene-Konzept bekannt geworden, sehr im Unterschied zu Schlachtbetrieben oder Gottesdiensten, um zwei Beispiele zu nennen. Warum diese Hysterie bei Kulturevents, aber zum Beispiel nicht bei Flugzeugen, die sogar wieder voll besetzt werden durften? Warum galt es nicht als gefährlich, etwa in Büros oder Betrieben die verbrauchte Luft vieler anderer einzuatmen oder in vollen Bussen zu fahren? Warum genau waren Kirchen von diesen Verboten ausgenommen, was war dort anders?

Virologisch unbedenklich?

Eine aktuelle Studie vom Fraunhofer-Institut und dem Umweltbundesamt legt erneut nahe, dass Konzertsäle in Deutschland virologisch unbedenklich zu betreiben sind. Es ist nicht transparent, in welcher Form solche Untersuchungen bei den politischen Entscheidungsträgern berücksichtigt wurden. Hilfsweise wurde darauf verwiesen, dass die Menschen zu den Konzertsälen auch „hinfahren“ müssten. Das Argument bleibt jedoch fragwürdig, da der Besuchs-Verkehr bei Konzerten (wenn nicht gleich von riesigen Festivals die Rede ist) quantitativ im Vergleich zum sonstigen Verkehr kaum ins Gewicht fallen dürfte.

Nein, ich glaube, der Sachverhalt ist bitterer und das Problem geht tie­fer. Der überscharfe Kulturlockdown wurde nicht deswegen verhängt, weil Politiker die Gesellschaft hier vor einer besonders schweren Gefahr schützen wollten, sondern weil sie Kultur schlicht für nicht wichtig halten. Die inszenierte Härte, mit der seit Monaten die Zerstörung unserer einzigartigen Kulturlandschaft in Kauf genommen wird, wird PR-mäßig als sachdienlich-konsequente Haltung verkauft und beklatscht. Aus meiner Sicht spricht daraus aber eher die nackte Ignoranz. Man mochte der Politik anfänglich noch zugestehen, dass sie von der Situation überrollt und überfordert war. Niemand konnte den Verlauf der Krise mit dieser Wucht und Hartnäckigkeit vorausahnen. Dass man sich bei vielen Aspekten immer wieder selbst widersprochen hat (anfangs etwa bei der Sinnhaftigkeit von Masken), war auch der unübersichtlichen Situation geschuldet. Man wurde aber das Gefühl nicht los, dass sich zunehmend Politiker des Themas auch bedienten, um mit autoritär wirkenden Gesten bei verängstigten Wählergruppen zu punkten. Der bayerische Landesvater Markus Söder etwa fiel durch penetrante und drakonische Rhetorik auf – das Virus kümmerte das nicht und Bayern war über lange Zeit am schlimmsten vom Virus betroffen. Erst nach Wochen seiner täglichen Pressekonferenzen erwähnte Söder überhaupt den betroffenen Kulturbereich.

Wie viele Fehler der Politik sind noch verzeihlich? All diese Themen standen auch im letzten Sommer bereits auf der Tagesordnung. Offen diskutiert in den Medien wurden sie kaum, dort herrschte das Diktat angeblicher Alternativlosigkeit. Kategorien wie die Verhältnismäßigkeit der Mittel, Freiheitsrechte, Recht auf Bildung, Schädigungen von Familien und Kindern, Freiberuflern, ganzen Branchen schienen dagegen zweitrangig. Der Tonfall war medizinisch-militärisch. Man konnte nur noch dafür oder dagegen sein.

Als Musiker habe ich naturgemäß keine Antworten auf viele der Fachfragen. Doch ich habe den Eindruck, dass eine echte gesellschaftliche Auseinandersetzung und im Besonderen eine Güterabwägung, was Lockdown-Schäden angeht, nicht in hinreichendem Maße stattfand. Dies sage ich primär aus meiner Perspektive eines Kulturschaffenden, aber auch als Familienvater. Ich habe das Gefühl, dass besonders auch die Kultur in der Krise auf geradezu skandalöse Weise benachteiligt wurde und hinten herunterfiel. Den Satz von Frau Merkel etwa „Es wird keine neuen Freiheiten geben,“ finde ich unglaublich frech. Denn es ist nicht der Staat, der den Menschen großzügig „Freiheiten“ gewährt.

Alarmstufe Rot

Es gab berechtigte Proteste der Branche – bundesweit etwa „Alarmstufe Rot“, in Bayern „Aufstehen für Kultur“ und anderes. Mit großem Interesse beobachte ich, wie die Gewerkschaft Verdi versucht, sich mehr für die Belange künstlerischer Freiberufler einzusetzen, und bin dort auch eingetreten.

Wir Kulturleute sollten uns nicht einschüchtern lassen und noch mehr engagieren, damit aus dem Lockdown nicht der endgültige Breakdown wird. Wir müssen uns mit größtem Nachdruck gegen die skandalöse Nivellierung von Kunst und Kultur wenden und leidenschaftlich unsere gesellschaftliche Relevanz betonen. Wir müssen entschieden dagegenhalten, wenn Kinder indoktriniert wurden, dass Singen etwas Verbotenes und Gefährliches ist. Kämpfen wir für den Erhalt der Chöre, Jazzclubs, Festivals, kleinen und großen Bühnen. Initiativen wie etwa um den Bariton Christian Gerhaher oder die, die sich für „Kultur ins Grundgesetz“ einsetzt, sind unbedingt unterstützenswert. Es wird Zeit, dass wir uns endlich deutlich und unüberhörbar artikulieren, mit den Mitteln der Kunst und darüber hinaus. Wenn wir uns jetzt nicht auf allen denkbaren Ebenen bemerkbar machen, wird es zu spät sein.

 

 

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