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Saleem Ashkar. Foto: Luidmila Jermies
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„Courage“ als Leitmotiv

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Das Motto des Rheingau Festivals schlägt einen Bogen von der Musik zur Gesellschaft
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Festivalplanung benötigt Zeit. Künstler und Künstlerinnen müssen angefragt, Termine geplant und Spielstätten gebucht werden. Und: Ein Festivalmotto sollte gefunden werden, ein thematischer Schwerpunkt, der die Konzerte überspannt, sie miteinander in Beziehung setzt und im besten Fall auch noch eine Botschaft vermittelt.

In der Programmplanung des Rheingau Musik Festivals setzte man sich schon vor drei Jahren zusammen, um einen solchen Leitgedanken für das diesjährige Festival zu finden. Schnell gelangte man zu einem Jubiläum: 2019, das sind 30 Jahre Mauerfall, 30 Jahre Friedliche Revolution und 230 Jahre Französische Revolution. Politische und gesellschaftliche Ereignisse, die von Menschen in Gang gesetzt und getragen wurden, die für ihre Überzeugungen und ihre Freiheit eintraten: Von „couragierten“ Menschen.

Auch unter dem Eindruck der politischen Ereignisse im Jahr 2016 — das Brexit-Referendum in Großbritannien, die Wahl Donald Trumps in den USA und die Bundestagswahl — habe man sich deshalb zu dem Thema „Courage“ entschlossen, erzählt Timo Buckow, verantwortlich für die Programmplanung beim Rheingau Musik Festival. Im Mittelpunkt der Überlegungen stand die Frage, ob wir noch für Freiheit und Demokratie kämpfen oder ob wir sie zu lange für selbstverständlich hielten. Wofür stehen wir? Sollte nicht jeder seine Meinung klar artikulieren, seinen Spielraum dazu nutzen, sich couragiert zu zeigen und für seine Meinung einzustehen? Diese Fragen stellt das Festival sich selbst, aber auch den Künstlern. Letztere zeigten sich sehr interessiert, viele treibt die Frage nach der eigenen „Courage“ — persönlich und als Künstler und Künstlerin — schon lange um.

Die Pianisten Gabriela Montero und Igor Levit etwa haben sich schon in der Vergangenheit immer wieder politisch geäußert und ihre Position als Künstler dazu verwendet, ihre Meinung öffentlich zu vertreten. „Wir wissen beide, dass wir spielen und sprechen und so die Stille durchbrechen müssen, durch unsere Musik, Taten und Worte Botschaften hervorbringen müssen, die einen nachhaltigen Einfluss auf andere haben werden“, schreibt etwa Gabriela Montero in der Programmbroschüre über das gemeinsame Konzert mit Igor Levit. Und dieser fordert: „Courage ist auch, ohne Rücksicht auf eigene persönliche Verluste für etwas einzustehen, woran man glaubt und wofür man kämpfen will. Seine Stimme für Demokratie, für Mitmenschlichkeit zu erheben, das ist keine Courage. Das ist für mich selbstverständliche Staatsbürgerpflicht“. Beide treten beim Festival zusammen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen auf, ein ebenfalls in seiner demokratischen Struktur außergewöhnlich „couragiertes“ Orches­ter.

Auch die Pianistin Danae Dörken wurde neben ihrem künstlerischen Können explizit wegen ihres gesellschaftlichen Engagements in den Rheingau eingeladen. Im Jahr 2015 gründete sie gemeinsam mit ihrer Schwester Kiveli Dörken ein Kammermusikfestival auf der von der Finanzkrise geplagten und durch zahlreiche ankommende Geflüchtete herausgeforderten griechischen Insel Lesbos. Durch die Musik wollen sie die Menschen zusammen bringen und eine positive Gegenkraft zu dem schwierigen Alltag bieten.

Aber „Courage“ ist nicht nur dezidiert politisch zu verstehen. Mut und Engagement braucht es allein schon dazu, sich für die Musiker/-innen-Karriere zu entscheiden und allen Widrigkeiten zum Trotz den Lebensunterhalt mit der Musik bestreiten zu wollen. „Courage“ kann auch den Mut den Konzertprogrammen gegenüber bedeuten. „Man muss sich wirklich etwas trauen, schlicht bereit dafür sein, damit etwas Neues entsteht. Nur so kann man dem Publikum etwas Neues geben und für das Neue offen machen“, meint die Sopranistin Christiane Karg, diesjährige Artist in Residence im Rheingau. Auch im gesamten Festivalprogramm schlägt sich der Themenschwerpunkt nieder. Das Bochabela String Orches­tra aus Südafrika etwa wird gemeinsam mit dem österreichischen Chor Vokale Neuburg Haydns „Nelson-Messe“ und Anti-Apartheidslieder spielen und damit dem Freiheitskämpfer Nelson Mandela gedenken. Das Orches­ter entsprang dem Mangaung String Programme, das das Ziel verfolgt, jedem Township-Bewohner das Erlernen eines Streichinstrumentes zu ermöglichen.

Ein weiterer programmatischer Schwerpunkt ist die Musik von sowjetischen Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch und Sergei Prokofjew, die von den Machthabern der Stalin-Ära  unterdrückt wurden und Repressionen erfuhren. Ihnen sind mehrere Konzerte gewidmet, unter anderem mit Daniil Trifonov, einem weiteren Artist in Residence, am Klavier und dem Cellisten Narek Hakhnazaryan. Außerdem wird das Auftragswerk zum Thema „Courage“ von Wisam Gibran aufgeführt. „Overcoming“ wird gespielt vom Galilee Chamber Orchestra, das von dem Pianisten Saleem Ashkar betreut wird und in dem jüdische und arabische Musiker/-innen zusammen spielen.

Die über 140 Konzerte in der Festivalspielzeit vom 22. Juni bis 31. August bieten Anlass, sich allen Facetten der „Courage“ zu widmen. Die Offenheit des Begriffs, die allein schon durch die unterschiedlichen in der Programmbroschüre abgedruckten Einschätzungen der Künstler illustriert wird, kann dabei zum Vorteil werden – oder auch in Beliebigkeit abrutschen. Es liegt jetzt an den einzelnen Künstlern und Zuhörer/-innen, diese „Courage“ mit Inhalt und Bedeutung zu füllen und sie zum Nachdenken und Zweifeln zu nutzen, aber auch, um einen Bogen von der Musik zu sich selbst und der heutigen Gesellschaft zu schlagen.

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