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Das Bild ist mächtig, das Ohr ist schwach

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Zur 69. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt
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„Niemals war eine Zeit so von Bildern geprägt wie die unsere“, stellt Darmstadts Oberbürgermeister Jochen Partsch in seinem Grußwort zur 69. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung fest. Jörn Peter Hiekel, Vorsitzender des Instituts, meint im Einführungvortrag, das Thema liege in der Luft. Und so gibt es nicht nur viel zu hören, sondern auch zu sehen – womöglich zu viel. Nicht allerdings von dem, was man gewöhnlich „Filmmusik“ nennt. „Neue Musik mit Film“ heißt es schließlich im Titel, und das Stichwort „Überblendungen“ beinhaltet sogar Film ohne Musik und Musik ohne Film.

Am ehesten dran am klassischen Erzählkino ist Edgar Reitz mit „Die stolzen Jahre“ aus „Heimat – eine deutsche Chronik“, zu sehen im Darmstädter Rex-Kino. Diese 10. Folge des legendären Hunsrück-Epos bietet sich für die Tagung an: Reitz’ Protagonist Hermann Simon, der junge Komponist, arbeitet im Elektronischen Studio des SWR in Baden-Baden an seiner Komposition „Bindungen Nr. 1“. Der Regisseur hat damals dem Komponisten Josef Anton Riedl ein Denkmal gesetzt, der 1959 bis 1966 in München das Siemens-Studio für elektronische Musik leitete und für ihn mehrere Kurzfilme vertonte.

Die bewusst sparsam eingesetzte Musik  zu „Heimat“ schrieb Riedls Schüler Nikos Mamangakis.
Erzählerisch eindrucksvoll am Porträt der Neuen Musik in den „Stolzen Jahren“ ist nicht nur die Begeisterung, mit der Hermann Simon und sein Stiefvater Paul am Einfangen und Verfremden von Naturgeräuschen arbeiten, eindrucksvoll sind auch die gönnerhaft-distanzierten Kommentare der Experten nach der Uraufführung der „Bindungen“  – und vor allem jene Szene, in der die Dorfbevölkerung von Schabbach in der Gastwirtschaft vor dem Radio sitzt, um die Direktübertragung des Opus zu erleben, erst respektvoll lauscht, dann anfängt zu tuscheln und zu lachen und schließlich den Saal verlässt. Vor dem Gerät verbleibt nur der vorgebliche Dorftrottel, der als einziger Schabbacher an diesem Abend eine ästhetische Erfahrung macht: „So fremdländisch, und so schee ...“ beschreibt er die Neue Musik des Hermann Simon.

Vorher gibt es im Rex-Kino als Rarität Edgar Reitz’ 1963 fertiggestellten Kurzfilm „Geschwindigkeit“ zu sehen. Für die 13-minütige, sich beschleunigende Bildfolge hat seinerzeit Josef Anton Riedl eine Musik für Schlagwerk geschrieben. Zwei Tage später, als Gast beim nachmittäglichen Vortragsprogramm in der Akademie für Tonkunst, wird Reitz eine zweite Fassung mitbringen – diesmal mit der 2007 entstandenen Musik für Streichquartett von Juliane Klein. Durch die Musik entstehe „ein völlig anderer Film“, befindet Reitz, der den Streifen naturgemäß am besten kennt. Anders geht es dem erstmaligen Betrachter: Er erkennt vor allem die Bilder wieder. Denn: „Das Bild ist mächtig – das Ohr ist schwach“. Das sagt die Komponistin Carola Bauckholt beim Vortrag über ihre eigenen Arbeiten, und bekennt, dass sie nur selten einen Film anschaut, denn die Eindrücke gingen ihr noch ein bis zwei Wochen nach.

Da stellt sich nun allerdings die Frage, wie das Publikum mit dem audiovisuellen Feuerwerk umgehen soll, das diese Darmstädter Tagung von morgens bis abends veranstaltet. Ist schon bei Neuer Musik fraglich, ob einmaliges Hören ausreicht, um einen Zugang zu gewinnen, so stellt das Programm einen nun immer wieder vor die Herausforderung, die Konzentration auf den akustischen und visuellen Kanal zugleich zu richten, zumal die Werke es in der Regel darauf anlegen, die Wahrnehmungs-Routine zu unterlaufen.

In Johannes Kreidlers „Split Screen Studies“ blättert auf verschiedenen Segmenten der Leinwand ein und derselbe Darsteller auf unterschiedlich geräuschvolle Weise in unterschiedlichen Büchern. Norbert Pfaffenbichlers „Conference. Notes on Film 05“ zeigt in etwa 70 Ausschnitten verschiedene Hitler-Darsteller der Filmgeschichte und unterlegt die Bilder mit Geräusch- und Musikfetzen. In Daniel Kötters und Hannes Seidls „Film für übers Sofa“ betreten zwei Darsteller mehrfach in unterschiedlicher Verkleidung einen Raum, dessen Einrichtung sie verändern, bevor sie durch eine zweite Tür oder das  Fenster abgehen; dabei hinkt die Tonspur irritierend der Bildspur hinterher. Simon Steen-Andersens geschickt präparierter Streifen „Run Time Error @ Den Frie“ zeigt den Komponisten, wie er in einem im Umbau befindlichen Kopenhagener Museum aus verschiedensten Objekten eine witzige Endloskette von Klängen und Geräuschen gestaltet.

Unter dem Pseudonym Turf Boon hat Jennifer Walshe in „The Softest Music in the World“, einen völlig stillen Musikfilm gedreht, dessen erste und unhörbare Aktion darin besteht, dass mit Wattestäbchen auf zwei Marshmellows getrommelt wird. In „Les Cris des Lumières“, live gespielt vom Ensemble ascolta unter Steffen Tast, beschränkt sich Clemens Gadenstätter auf (zum Teil drastische) akustische und Licht-Effekte, zu denen der Hörer eine mehr oder weniger klischeehafte Bildspur assoziieren darf. Hans Richters dadaistischer Stummfilm „Vormittagsspuk“ von 1928, dessen originale Tonspur unter dem NS-Regime zerstört wurde, ist in gleich drei Neuvertonungen (von Carola Bauckholt, Martin Smolka und Cornelius Schwehr)  zu erleben.

Auch im Vortragsprogramm geizen Referentinnen und Referenten nicht mit interessanten und wenig bekannten Filmbeispielen. In der Regel werden sie einmal gezeigt und kommentiert, oft wird der Zeitplan überzogen. Ermüdungserscheinungen bleiben nicht aus, Diskussionen, wie auf früheren Tagungen, entstehen kaum. Da ist man schon froh, wenn Jürg Stenzl Auffassungsvermögen und Gedächtnis durch ein Thesenpapier zu zwei Filmen von Alain Resnais mit Musik von Hans Werner Henze entlastet, oder wenn Cornelius Schwehr im Workshop „Neue Musik und Film – Beispiele aus der Praxis“ in die Runde fragt: „Soll ich was zeigen, oder wollen wir uns darüber unterhalten?“ Ein vielstimmiges „Beides!“ schallt ihm entgegen, und so gelingt es dann auch – auf ebenso unterhaltsame wie instruktive und manchmal kontroverse Weise.

Eine Hörerin dankt Schwehr, „naiv, wie ich bin“, für eine Hör-Anleitung; sie sei „nicht so gelehrt wie die Herren Professoren“. Da kommt einem die schöne Formulierung des Kunst- und Medientheoretikers Dieter Mersch vom Vortag in den Sinn, künstlerische Arbeit sei „Philosophieren mit anderen Mitteln“. Sinnfragen sind kein Gelehrten-Privileg, aber sie brauchen eine Balance zwischen „Vor-Tragen“ und „Nach-Denken“. Nach zweieinhalb Tagen Darmstadt aber lässt sich diesmal deutlich resümieren: Die (gut gemeinte) enzyklopädische Anhäufung dominiert die (vielzitierte) ästhetische Erfahrung.

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