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Das einzig Objektivierbare ist die Subjektivität

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Auf der Suche nach objektiven Bewertungskriterien und Qualitätsstandards
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Keine künstlerische Prüfungskommission dürfte sich je der Illusion hingegeben haben, die Momentaufnahme einer instrumentalen Spielleistung objektiv bewerten zu können. Zugleich ist das Selbstverständnis einer Jury, sich um Objektivität zu bemühen. Drei Professoren, die über Bewertungsmaßstäbe und qualitative Standards nachdenken, merken schnell, dass derlei Fragen untrennbar mit der Reflexion des eigenen pädagogischen Selbstverständnisses verbunden sind. Das tun im Interview folgende HfMDK-Instrumentalprofessoren: Flötist und Dirigent Michael Schneider, Leiter des Studiengangs Historische Interpretationspraxis, Michael Sanderling, Professor für Violoncello und Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, sowie Cellist Lucas Fels, Inhaber der Stiftungsprofessur „Interpretatorische Praxis und Vermittlung neuer Musik“ und Cellist des Arditti String Quartet London.

Wie eindeutig lassen sich künstlerische Leistungen in Spielprüfungen qualitativ messen?

Michael Sanderling: In einem künstlerischen Beruf ist die Messbarkeitsquote erfreulich gering. Allerdings macht diese Tatsache eine Bewertung schwer. Jeder, der sich diesem Thema professionell widmen möchte, erkennt bald, dass die Objektivität hinter der Subjektivität zurückstehen wird. Natürlich kann der richtige Ton zur richtigen Zeit mit vorgegebener Dynamik eine Rolle spielen, aber schon letzteres unterliegt einer subjektiven Deutung. Derlei Parameter sind ja im Übrigen nur Grundlage für das, was wir uns erhoffen, nämlich eine gewisse Magie, die durch den Interpreten entstehen soll. Eigentlich wäre es praktisch, wenn man per Video sowohl die Aufnahme- als auch die Abschlussprüfung festhalten und beide Ergebnisse miteinander vergleichen könnte. Dann wäre für mich eine wirkliche Messbarkeit gegeben: Welche Entwicklung hat bei diesem Studierenden stattgefunden?

Michael Schneider: Es ist eben immer eine Mischung aus harten und weichen Faktoren, die den Gesamteindruck entstehen lässt. Meine Erfahrung sagt, dass ich eigentlich nichts weiß: Das, was ich in einer Aufnahmeprüfung gehört habe, kann sich in beide Richtungen entwickeln. Die erfolgversprechendsten Aufnahmeprüfungen führen manchmal in einen enttäuschenden Studienabschluss und umgekehrt.
 
Lucas Fels: Vielleicht ist es gerade dann schwierig, wenn man den Studierenden lang kennt, ihn am Ende seines Studiums zu beurteilen. Zwei Faktoren finde ich wesentlich: Das eine ist das Verhältnis von Interpretation zur geschriebenen Partitur. Jemand kann möglicherweise das Stück wirkungsvoll „verkaufen“, aber es hat möglicherweise mit dem Original nicht viel zu tun. Zum anderen interessiert mich, wie sich der Musiker jenseits der Noten mit diesem Stück beschäftigt und ihm damit gerecht werden kann. In dieser Hinsicht finde ich manchmal die Messlatte der Beurteilung zu niedrig angesetzt. Beethoven im Kontext seiner Zeit, aber auch im Kontext der Rezeption zwischen damals und heute zu verstehen und daraufhin bewusst zu interpretieren, ist sicher ein Merkmal von Qualität.

Sanderling: Da stellt sich genau die Frage, wer diese Messlatte wo ansetzt. Da muss jeder ehrlich mit sich selbst sein, und wir als Lehrer müssen uns daran messen lassen: Inwieweit leben wir es vor innerhalb des vorgegebenen Textes die für uns wahrhaftigen Überzeugungen zu suchen und zu finden? Aber wir alle wissen, dass uns der Musikmarkt etwas ganz anderes vorlebt. Ich fürchte, dass auf ihm heute vieles gern hingenommen wird, wenn eine instrumentale Präsenz gezeigt wird, die man für exorbitant hält, die aber in Wirklichkeit gar nicht im Vordergrund zu stehen hat. Leider geht es aber vielerorts – auch in Instrumentalklassen an Hochschulen – immer noch um die Zurschau-Stellung instrumentalen Vermögens.

Worum geht es also vorrangig in der Instrumentalausbildung jenseits rein technischer Beherrschung?

Schneider: Ist es unsere Prämisse, dass wir eine dem Werk gerecht werdende Haltung vermitteln, indem wir sie aus den Augen ihrer Zeit sehen? In der Alten Musik beobachte ich ebenfalls die gerade beschriebene Entwicklung: Es greift ein Starkult Platz, in dem viel Willkür herrscht – Hauptsache, es verkauft sich gut. Im Moment verkauft sich auf dem kommerziellen Markt überhaupt nicht mehr die Ehrlichkeit dem Werk gegenüber.

Wirkt das zurück in die Hochschule?

Schneider: Wir versuchen in unserer Abteilung für Historische Interpretationspraxis, den Anspruch unserer Verpflichtung gegenüber den musikalischen Werken nach wie vor so hoch wie möglich zu halten, zum Beispiel durch theoretische Fächer mit wissenschaftlichem Forschungsansatz. Unsere Studierenden bekommen ihr Examen jedenfalls nur, wenn sie auch diese musiktheoretische Annäherung durchlaufen haben.  

Fels: Ich behaupte, dass es kaum noch einen Bereich gibt, der nicht kommerzialisiert ist – auch nicht in der Neuen Musik –, abgesehen vielleicht von einigen „Inseln“ wie zum Beispiel die „Internationalen Ferienkurse“ in Darmstadt. Ich habe den Eindruck, dass der Druck, mit der Musik Geld verdienen zu müssen, leider auch schon an den Hochschulen spürbar ist. Wir sollten den Anspruch, Musik als Kunstform ernst zu nehmen, nicht aufweichen. Ich stelle außerdem die provokante Frage: Wozu brauchen wir überhaupt Abschlussprüfungen? Zumindest bei angehenden Orchestermusikern finden die eigentlichen Prüfungen ganz woanders statt, nämlich bei Probespielen oder Wettbewerben.

Sanderling: Aus der Sicht der Ausbildung zum Orchestermusiker stellt sich für mich auch das Problem der Individualisierung im Musikbetrieb, die aber genau bei Probespielen für Orchesterstellen nicht erwünscht ist.

Fels: Was will das Orchester denn für Persönlichkeiten haben?

Sanderling: In Dresden hatten wir über mehrere Jahre keine neue Geige bekommen. Daraufhin habe ich dort das Probespielprozedere umgedreht, und prompt hatten wir zwei neue Geiger.

Was haben Sie umgedreht?

Sanderling: Wir haben in der ersten Runde eben nicht mit den Solopartien von Violinkonzerten angefangen. Im Orchester interessiert uns doch vielmehr, was der Kandidat an musikalischer Intelligenz, stilistischer Vielfalt und Kommunikationsfähigkeit mitbringt. So bestand unsere erste Probespielrunde aus Orchesterstellen und einem Kammermusikwerk vom Blatt. Die Individualisierung brauche ich, aber die will von den Kollegen niemand hören - das Orchester will keinen bunten Vogel haben, sondern jemanden, der in die Gruppe hineinpasst. Deshalb finde ich, dass wir nie die Erwartungen und die Realität jenseits der Hochschulmauern außer Acht lassen dürfen. Ich glaube, dass die Messbarkeit an der Hochschule völlig uninteressant ist - die wird erst in der Berührung mit der Realität „draußen“ interessant.

Fels: Umso mehr ist es unsere Aufgabe, sich für die Authentizität des Werkes einzusetzen …

Sanderling: … jedenfalls nicht alle Scharlatanerie zuzulassen, darin sehe ich meine Aufgabe. Der Diskrepanz zwischen dem, was wir als authentisch erkennen, und dem, was der Markt will, zulässt oder gar erfordert, kann man in keiner Prüfungsbewertung vollends gerecht werden. Deshalb bin ich von einer absoluten Bewertung weggekommen und hin zu einer relativen: Was hat der Studierende mit sich selbst erreicht?

Nach was suchen Sie bei Aufnahmeprüfungen?

Schneider: Ich versuche überhaupt nicht zu hören, wie jemand ein Stück spielt, was er für einen Geschmack hat und wie er die Triller ausführt. Ich versuche nur, Voraussetzungen zu erkennen: beispielsweise ob der Kandidat entwicklungsfähig ist; ob die Technik eine Basis bietet, auf der man weiterarbeiten kann. Häufig ist aber zu beobachten, dass Leute, die früh Erfolge hatten, zu uns kommen, fabelhaft spielen, aber nur noch ihre Erfolge wiederholen wollen. Sie bringen wenig Entwicklungspotenzial mit und drohen abzustürzen, wenn es darum geht, Musik zu machen und nicht nur Preise abzuräumen. Im Studium muss es aber auch darum gehen, wieder vier Schritte zurückzutreten und sich zu fragen, wofür die Musik wirklich steht und was ihre Substanz ausmacht. Auf der anderen Seite stellen sich Kandidaten vor, die technisch längst nicht so weit sind, aber bereit, unsere Angebote  auszuschöpfen. Die stilistische Breite, die wir an der HfMDK anbieten, ist ein Qualitätsmerkmal und in dieser Form einmalig, der Austausch untereinander eine große Chance. Wer diese Chancen wahrnimmt, kann sich auf dem Markt später besser behaupten.

Also ist allzu große interpretatorische Entschlossenheit nicht immer die beste Voraussetzung für gelingendes Musizieren?

Fels: Die, die zu wissen glauben, wie ein Stück geht, haben sich oft gar keine Fragen dazu gestellt. Man kann aber meines Erachtens keine Beethoven-Sonate „richtig“ spielen, ohne sich dazu Fragen nach dem Kontext, in dem Beethoven komponiert hat, zu stellen. Die Fähigkeit, diese Fragen zu stellen, muss ein Studium schärfen. Musiker, die die Hochschule mit einem weiten Horizont verlassen, sind die Leute, die auf dem im Moment rasant wachsenden „Markt“ der freischaffenden Musiker dauerhaft eine Chance haben.

Herr Sanderling, was sind für Sie Kriterien, einen Cellisten in Ihre Klasse aufzunehmen?

Sanderling: Können wir dem Kandidaten, der sich um einen Studienplatz bewirbt, das überhaupt anbieten, was er braucht, um sich weiterzuentwickeln? Ich habe schon mehrfach tolle Musiker nicht angenommen, weil sie das schon hatten, was wir ihnen an Handwerkszeug anbieten können. Umgekehrt gab es welche, deren Spiel noch kein absoluter Hörgenuss war, bei denen ich aber genau wusste, wie ich ihnen würden helfen können. Dies alles beweist ja nur: Es gibt keine absoluten Bewertungsmaßstäbe.

Fels: War das nicht mal anders? In meiner Studienzeit orientierte man sich noch ganz pragmatisch an definierten Vorbildern.

Sanderling: Sich an Vorbildern zu orientieren, muss aber noch nicht heißen, dass man einem Stück und sich selbst nicht gerecht wird. Es kann auch Phasen der eigenen Verengungen geben, aus denen man später wieder herausfindet.
 
Wie kontrovers kann eine Diskussion in Prüfungskommissionen verlaufen?

Schneider: In Fachkommissionen für Aufnahmeprüfungen erlebe ich eigentlich nie Dissens. Diese Eindeutigkeit spricht doch dafür, dass es durchaus einen Katalog von objektivierbaren Kriterien gibt, oder?

Sanderling: Diese Einmütigkeit hängt vielleicht damit zusammen, dass sich solch eine Fachjury sucht und findet. Man bildet ja über Jahre ein Kollegium, und da schart man – bewusst oder unbewusst – Leute um sich herum, die gleichgesinnt sind. Auch Ablehnungen können eindeutig ausfallen?
 
Schneider: Wir erleben ab und an, dass sich Leute bei uns vorstellen, die gar keine Musiker sind - die in der Lage sind, ein Instrument zu spielen, aber gar keine musikalische Mitteilsamkeit erkennen lassen. Und da sind wir uns schon schnell einig...

Fels: ... Jetzt wird`s gefährlich: Was heißt „kein Musiker“?

Schneider: Mir ist es wichtig zu erkennen, ob da jemand auf der Bühne ist, der als Musiker etwas sagen will und muss und für die Musik brennt.

Sanderling: Ich sehe meine Aufgabe übrigens nicht nur darin, Leuten zu helfen, den Musikerberuf ausüben zu können, sondern unter Umständen auch zu helfen zu erkennen, dass sie damit nicht glücklich werden und ihnen vom Musikerberuf abzuraten.

Eine letzte Frage an den dienstältesten Professor in der Runde: Was lässt sich rund um Prüfungen unumstritten objektivieren?

Schneider: Das einzig Objektivierbare ist die Subjektivität! Eine Kategorie für die Jury bei allen wichtigen Wettbewerben ist doch gerade die Einschätzung der „Künstlerischen Persönlichkeit“, und zwar als Kategorie, die entscheidend in die Wertung einfließt. Diese ist letztlich aber nicht objektivierbar, während sie aber genau das ausmacht, was letztlich zählt.

Interview: Björn Hadem
 

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