Hauptbild
Monk im New Yorker Minton‘s Playhouse 1947. Foto: William P. Gottlieb/Ira and Leonore S. Gershwin Fund Collection, Music Division, Library of Congress
Monk im New Yorker Minton‘s Playhouse 1947. Foto: William P. Gottlieb/Ira and Leonore S. Gershwin Fund Collection, Music Division, Library of Congress
Banner Full-Size

Der geschmolzene Kern

Untertitel
Die Herausforderung Thelonious Monk – 100 Jahre nach seiner Geburt · Von Claus Lochbihler
Publikationsdatum
Body

Seine Noten rückte Thelonious Monk (1917–1982) nur ungern raus. Am liebsten gar nicht. Seine Mitmusiker sollten sich seine Songs und Kompositionen ‚erhören‘. Monk, berichtete John Coltrane später, war der Überzeugung, ein Musiker müsse ein Musikstück möglichst ohne Noten erlernen. Rein nach Gehör – weil er es so schneller und besser ‚fühlen‘ würde. Also spielte Monk seinen Schülern und Mitmusikern seine Stücke am Klavier vor – immer und immer wieder. Und nur, wenn es nach Gehör gar nicht weiterging, zog Monk die Noten hervor. Coltrane: „Wenn ich ein Stück zum größten Teil drauf hatte, ließ er mich damit allein. Dann ging er raus, zum Einkaufen oder ins Bett. Und ich übte weiter, bis ich es ziemlich gut konnte. Dann rief ich ihn und wir spielten es zusammen. Manchmal schafften wir nur ein Stück pro Tag.“

John Coltranes Erinnerungen an seinen monatelangen Unterricht bei Thelonious Monk im Jahr 1957, der schließlich im berühmten, für beide karriere-, lebens- und jazzverändernden Gig im „Five Spot Café“  mündete: Sie liefern einen Beleg dafür, dass der Komponist Monk Ausnotiertes mit Skepsis betrachtete. Nicht nur, weil es die im Jazz so wichtigen Faktoren wie Timbre, Phrasierung und Swing nur sehr begrenzt oder gar nicht wiedergeben kann. Sondern auch, weil Komposition im Jazz dazu da ist, in Improvisation überzugehen. Improvisation, die mit dem Ausgangsmaterial spielt, es ausdeutet und motivisch fortspinnt, um am Ende wieder im Komponierten zu münden.

Motivische Vernetzung

Monk hatte, was diesen Übergang vom Komponierten ins Improvisierte angeht, hohe Ansprüche – an sich selbst und andere. Solisten sollten nicht einfach irgendwie über und durch die Changes spielen, sondern am besten mit der Melodie und über sie improvisieren. Kaum jemand hat diesen Anspruch und diese Praxis des motivischen Solierens à la Monk so gut beschrieben wie Hans-Jürgen Schaal: „‚Vergiss das Kreischen, die billige Virtuosität. Bleib bei der Melodie‘, so wies er gerne seine Bläser an. Sein Improvisieren war eine Art mathematisches Vexierspiel mit der Ausgangsphrase, die er hin- und herdrehte, zerpflückte, anders akzentuierte, mit endloser rhythmischer Erfindungskraft durchs Labyrinth der Akkorde zerrte.“  Ähnlich Peter Niklas Wilson: Monks Improvisationstechnik habe das Komponierte beim Wort genommen und das Komponieren und Improvisieren „auf die rhythmische und intervallische Permutation minimaler musikalischer Floskeln“ zurückgeführt.

Monk war offenbar der Ansicht, dass das improvisierende Spiel mit dem Komponierten am besten gelingen könne, wenn seine Mitmusiker es nach Gehör erlernt und verinnerlicht hatten. Was er von ihnen forderte – motivische Vernetzung –  führte er selbst immer wieder vor: 1961,bei seiner ers­ten Europa-Tournee, baute er seine Soli auf der letzten Phrase des vor ihm solierenden Tenorsaxophonisten Charlie Rouse auf, um es anschließend mit dem melodischen Material des Songs zu verknüpfen und am Ende wieder beim Komponierten zu landen – dem minimalistisch abstrakten „Evidence“ , dem karibisch inspirierten „Bemsha Swing“ oder dem verzwickten „Epistrophy“,  das mehr noch als „‘Round Midnight“ zu so etwas wie Monks Erkennungsmelodie wurde. Auch Monks eigenwillige Form des Begleitens – manchmal sehr reduziert, dann wieder geschäftig, mit wuchtig-perkussiven, rhythmisch oft überraschend platzierten Akkorden, Läufen und Gegenmelodien, in Summe fast eine Form des improvisierenden Orchestrierens – hatte die Aufgabe, so Robert Christgaus kluge Deutung, den Solisten an den Song und dessen in der Improvisation „geschmolzenen  Kern“ zu erinnern. Ein Ausdruck, der natürlich auf das berühmteste, schönste und hellsichtigste Zitat anspielt, das bis heute zu Monk und seiner Musik formuliert wurde. Nämlich Whitney Ballietts Satz, dass Monks Kompositionen „gefrorene Monk-Improvisationen“ und „seine Improvisationen geschmolzene Monk-Kompositionen“ seien.

Wie es sich anfühlte, von Monk begleitet und immer wieder auf den Kern der Komposition hingewiesen zu werden, hat sehr schön Phil Woods beschrieben, der Teil von Monks „Town Hall Orchestra“ (1959) war. Monk habe als Begleiter „wie Kleber“ an einem gehaftet und „einen auf Gebiete geschubst und gezogen, von denen du gar nicht wusstest, dass sie für dich erreichbar waren. […] Du kamst auf einmal auf Licks, von denen du nicht wusstest, das sie in dir liegen.“ Aber nicht jeder hatte Lust, während des Solierens von Monk an den rechten Weg des Improvisierens erinnert zu werden. Miles Davis zum Beispiel, der mit Monk mehrfach heftig aneinander geriet, konnte mit Monks Klavierbegleitung nichts anfangen. Bei den Aufnahmen zu „Bag’s Groove“ (1954) wollte der Trompeter, dass Monk  jedes Mal aussetzte, wenn er, Miles Davis, solierte. Dass der Trompeter mit seinen Versionen von „‘Round Midnight“ und „Well, You Needn’t“ andere, leichtere, aus Sicht Monks falsche Akkordfolgen etablierte als jene, die Monk komponiert und eingespielt hatte, trug ebenfalls zur Spannung zwischen den beiden bei. Als der Trompeter nach dem gemeinsamen Auftritt beim Newport Jazz Festival 1955 behauptete, Monk (!) spiele die falschen Changes zu „‘Round Midnight“, kam es auf dem Rückweg vom Festival zum Eklat. Monk ließ den Wagen anhalten und ging zu Fuß Richtung Fähre. 

Monk ist nach – oder neben? – Duke Ellington der bedeutendste Komponist des Jazz. Den kompositorischen Fußabdruck, den Ellington mit rund 2.000 Stücken hinterließ, schuf Monk mit gut 70 Kompositionen. Während Ellington bei vielen seiner Stücke mit Billy Strayhorn oder Juan Tizol zusammenarbeitete und Riffs und Ideen seiner Sideman verarbeitete, komponierte Monk bis auf ganz wenige Ausnahmen allein und ohne direkten Input anderer. Trotzdem und trotz des frühen Erfolgs seiner Kompositionen – lange bevor auch Monk als Musiker und Pianist endlich Anerkennung  erfuhr – sah sich Monk nicht primär als Komponist. Als ihn ein Interviewer fragte, ob er lieber  komponiere oder Klavier spiele, antworte Monk mit der ihm eigenen Lakonie: „Ich mache beides.“  Ausführlichere Antworten gaben nur andere. Gerry Mulligan etwa befand, es sei sehr schwierig, Monk, den Pianisten, von Monk, dem Komponisten, zu trennen. Sein Klavierspiel sei der direkte Ausdruck seiner kompositorischen Haltung.

Monk heute

Aber wie interpretiert man 2017, hundert Jahre nach seinem Tod, Kompositionen eines Pianisten, bei dem die Grenzen zwischen Komponiertem, Improvisiertem und Instrumentalem nicht klar abgegrenzt, sondern fließend waren? Wie monkish muss oder darf man spielen, wenn man Monk spielt? Wie geht man mit Kompositionen um, die – wie zum Beispiel „Epistrophy“ – manchen Interpreten, selbst gegen ihren Willen, Monkismen aufzwingen? Wie schafft man es, im Vergleich zum Original nicht wie ein zweit- oder drittklassiges Monk-Imitat zu klingen, sondern frisch und eigenständig? Wie stellen sich Pianisten, die das Glück und Unglück haben, das gleiche Instrument wie Monk zu spielen, dieser Herausforderung?

Fred Hersch, seit 40 Jahren von Monk fasziniert und seit 20 Jahren in jedem Konzert Interpret von mindes­tens einer Monk-Nummer, erklärte unlängst: „Ich versuche, ihn nicht zu imitieren (ich würde am Ende sowieso nur als Verlierer dastehen), sondern seinen Geist der melodischen Erfindungsgabe und seinen Gebrauch von Raum einzufangen.“ Herschs Ansatz: Monks Pianistik aus der Rechnung herausnehmen, sich nur auf die DNA der jeweiligen Komposition zu konzentrieren und diese durch seinen, Herschs eigenen pianistischen Filter jagen.

Jason Moran, der nur wegen Monk Pianist wurde, führt wie kaum ein anderer Monks wuchtigen, perkussiven Anschlag fort. Bei größeren Projekten interpretierte er Monks Musik oft im Rahmen multimedialer Formate, bei denen das Vorbild oft visuell oder durch Sampling aufscheint – etwa der zu einem Loop verarbeiteten Geräusche, die Monks Schuhe erzeugten, als er bei einem Solo eines Mitmusikers einen seiner Tänze aufführte. Monk hat für Moran auch mit Hip-Hop zu tun: Zu Monk wackle er mit dem Kopf wie zur Musik des Wu-Tang-Clan, der Monk – und hier schließt sich der Kreis – wie andere Hip Hop-Gruppen auch mehrfach gesampelt hat. 

Andere Pianisten wiederum extrapolieren spezifische Elemente in Monks Musik: Danilo Perez („Panamonk“) und andere Pianisten mit einem Latin-Background bauen das rhythmische, afro-karibische Element in der Musik Monks aus, das besonders in Titeln wie „Bye-Ya“ oder „Bemsha Swing“ deutlich wird, und latinisieren auch Monk-Nummern, die diesen Latin-Charakter im Original nicht oder nur unterschwellig aufweisen. Ethan Iverson – bis vor kurzem Pianist von „The Bad Plus“ und mit seinem Blog „Do the M@th“ auch zu Monk einer der kenntnisreichsten, besten und meinungsfreudigsten Jazzblogger überhaupt – kritisiert, dass Monk nicht nur der meist gespielte, sondern häufig auch der am schlechtesten gespielte Jazz-Komponist sei. Monk, so Iverson, werde bis heute noch nicht ganz verstanden. Man könne Monk-Nummern nicht angemessen interpretieren, wenn man sie wie x-beliebiges Session-Material behandle. Nummern wie „Ruby, My Dear“ würden häufig sehr schlecht gespielt, von anderen fehle bis heute eine definitive Aufnahme. Iverson fordert mehr Werktreue: Weg von den Changes, die Miles Davis für „’Round Midnight“ und „Well, You Needn’t“ etablierte, zurück zu den Original-Akkorden Monks!

Vijay Iyer wiederum, einer der wichtigsten Musiker der letzten Jahre, ist – ähnlich wie Moran – Monk-Jünger, auch wenn seine eigene Musik oft anders klingt: Monks Musik sei für ihn die wichtigste Musik der Welt. Monk habe Sachen gehört und etabliert, die vor ihm niemand gehört habe. Die verminderte Quinte geht für Vijay Iyer auf niemand anderen als Monk zurück. Aber auch jenseits der Jazzpianistik ist Monk 100 Jahre nach seiner Geburt allgegenwärtig. „Wenn du ein Jazzmusiker bist und glaubst von Monk nicht beeinflusst zu sein, bist du entweder kein Jazzmusiker oder du bist eben doch von Monk beeinflusst“, hat Saxophonist Kamasi Washington anlässlich des Monk-Jubiläums gesagt.

Vijay Iyer describes Thelonius Monk's take on a Duke Ellington classic from Nautilus on Vimeo.

Wie überzeugend monkish man auf anderen Instrumenten als dem Klavier klingen kann, haben Gitarrist Bill Frisell und der vor sechs Jahren verstorbene Schlagzeuger Paul Motian gezeigt. Und auch im Pop und Rock hat Monk seine Verehrer. Donald Fagen von Steely Dan hat für ein Monk-Tribute-Album, für das sich in den 80er-Jahren Rock- und Pop-Größen mit Jazzmusikern zusammen taten, „Reflections“  aufgenommen – mit Steve Khan an der Jazz-Gitarre. Und sogar von Sting gibt es eine Monk-Nummer: Eine Version von „’Round Midnight“ auf dem Monk-Album von Andy Summers, ehemals Gitarrist bei Police. Sting dürfte so ziemlich die un-monkishste aller „Round Midnight“-Aufnahmen ever gelungen sein. „’Round Midnight“ als Sting-Nummer.  Aber vielleicht ist es besser, Monk schlecht als gar nicht zu spielen. Dann weiß man, was man an den guten Aufnahmen hat. Und am großen, alten, ewig jungen Monk.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!