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Sinnbild eines von Klischees befreiten Jazzidioms: Don Cherry und seine Taschentrompete. Foto: Sascha Kletzsch
Sinnbild eines von Klischees befreiten Jazzidioms: Don Cherry und seine Taschentrompete. Foto: Sascha Kletzsch
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Der Inbegriff des globalen Musikers

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Am 18. November würde Don Cherry 80 Jahre alt · Von Hans-Jürgen Schaal
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Er hat unsere Ohren und unser Bewusstsein neu gestimmt. Damals, als Beatmusik und Freejazz tobten, als Rockgitarren und Saxophone lärmten, eröffnete Don Cherry uns einen anderen, einen globalen Klangraum. Mit seinen Flötentönen und seinen kleinen Gesängen begründete er die World Music.

In Donaueschingen 1971 kam Don Cherry mitsamt seiner neuen Familie auf die Bühne. Das waren seine schwedische Frau Moki, der gemeinsame, damals drei Jahre alte Sohn Eagle-Eye und der Familienhund Stup. Don Cherry meditierte vor dem Auftritt, beim Konzertieren saßen er und Moki im Lotussitz auf den Bühnenbrettern. Ein 14-köpfiges Jazzorchester hatte der Südwestfunk für Don Cherry zusammengestellt, ein „Who’s who“ der damaligen Freejazz-Szene Europas, darunter Musiker wie Willem Breuker, Peter Brötzmann, Albert Mangelsdorff, Manfred Schoof, Tomasz Stanko und Kenny Wheeler. Mit diesem Ensemble hatte Cherry eine Reihe von Motiven eingeübt, die in loser, spontaner Folge nacheinander erklingen sollten. Es waren vor allem Motive in verschiedenen asiatischen Skalen – jedes wurde vielfach wiederholt, ehe das nächste Motiv einsetzte. Die Freejazz-Bläser improvisierten über diese Motive oder in den Übergängen. Aber manchmal wurde die Musik auch ganz ruhig, stülpte sich quasi nach innen. Dann hörte man nur eine kleine indische Vokalmelodie oder eine chinesische Keramikflöte oder das Klingeln des afrikanischen Daumenklaviers.

Humor und Risiko

Der Freejazz war Don Cherrys Ausgangspunkt gewesen. Von 1959 bis 1961 spielte er die Trompete – es war ein Taschenkornett – im legendären Quartett von Ornette Coleman, das damals den Jazz auf den Kopf stellte. Don Cherry schien nur Colemans Sideman zu sein, aber mancher sah in ihm später „die eigentliche Schlüsselfigur“ (Derek Bailey). Seine Art, das Kornett zu spielen, losgelöst von aller Funktionalharmonik, war etwas im Jazz Unerhörtes. Er brachte einen besonderen Lebensfunken in die Musik von Ornette Coleman, eine Mischung aus Humor und Risiko, aus Beschwörung und Anarchie. Dem Geist dieses revolutionären Quartetts sollte Don Cherry immer treu bleiben. Es gab Wiederbegegnungen mit Coleman in den 1970er und 1980er Jahren. Es gab auch das Quartett Old And New Dreams, in dem Cherry zusammen mit anderen Coleman-Veteranen dem Vater des Freejazz huldigte. „Er kennt mehr Kompositionen von mir als ich selbst“, sagte Coleman über Cherry.

Ornette Coleman war der Ausgangspunkt, aber die Reise ging weiter. Don Cherry hat im Lauf der Jahre mit fast allen wichtigen Freigeistern musiziert – von Albert Ayler bis Sun Ra, von Gato Barbieri bis Archie Shepp, von John Coltrane bis George Russell. Vor allem aber zog er seine eigenen Konsequenzen aus der neuen Jazzfreiheit. Wenn das harmonische Schema, die Chorusform, die durchgängige Zählzeit überwunden sind, wird das Konzept „Jazz“ ein völlig anderes – das hat niemand so klar realisiert wie Don Cherry. Schon auf seinen ersten eigenen Platten „Complete Communion“ (1965) und „Symphony For Improvisers“ (1966) ersetzte er das herkömmliche Jazzstück (Thema – Soli – Thema) durch 20-minütige, suitenartige, multithematische Abläufe. Schon auf diesen ersten Platten verwendete er auch Skalen und Melodien, die nicht mehr in der europäischen oder afroamerikanischen Tradition gründeten. Denn wenn Harmonik und Strophe gesprengt sind, ist der Weg frei zu einer Vielzahl von anderen tonalen und formalen Konzepten. Don Cherry ging diesen Weg und ließ sich nicht beirren.

Von 1964 bis 1971 produzierte Joachim Ernst Berendt ein Dutzend Platten unter dem Motto „Jazz Meets The World“. Alle diese Alben dokumentieren Begegnungen zwischen Jazzkünstlern und traditionellen Musikern aus verschiedenen Weltgegenden. Nur ein Album war anders: Don Cherrys „Eternal Rhythm“ (1968). Denn hier waren Jazzmusiker unter sich. Sie erschlossen sich mit der ihnen eigenen Fantasie die Sounds anderer Musikkulturen. Neben seinem Taschenkornett spielte Don Cherry hier Gamelan-Instrumente und diverse exotische Flöten aus Bambus oder Metall. Ein Jahr später gründete er ein Duo mit dem Schlagzeuger Ed Blackwell, einem Meister der Polyrhythmen. Ihr gemeinsames Album „Mu“ klang wie eine Reise durch sämtliche Tonleitern und Rhythmen des Planeten. Diese Musik besuchte Bali, machte in Indien Halt, grüßte Japan oder Westafrika, ohne dabei je traditionalistisch zu werden. Zwei Jazzmusiker stellten einfach ihr Improvisieren auf neue Grundlagen. Das Ergebnis: eine globale Musikfantasie.

Vision Weltmusik

Von da an war Don Cherry der Inbegriff des globalen Musikers. Mal blies er indianische Hymnen auf der Melodica, mal spielte er javanische Skalen auf dem Piano, dann wieder hämmerte er afrikanische Rhythmen auf dem Doussn‘Gouni, einer malischen Spießlaute. Cherry konzertierte mit dem türkischen Perkussionisten Okay Temiz, dem südafrikanischen Bassisten Johnny Dyani, dem indischen Trommler Trilok Gurtu, auch mit afrikanischen Musikern in Paris oder einem ghanaisch inspirierten Orchester in Schweden. Er schien in allen Musiktraditionen zu Hause zu sein und sie in sich vereinen und versöhnen zu können – dabei vergaß er auch die eigenen afroamerikanischen und indianischen Wurzeln nicht. Mit dem Indien-Experten Collin Walcott und dem Brasilianer Nana Vasconcelos hatte Don Cherry von 1978 bis 1982 die Dream Band des Transkulturellen – sie hieß Codona (aus: Collin-Don-Nana). Der Vibraphonist Karl Berger sagte: „Cherry ist das musikalische Gedächtnis der Welt.“

Don Cherrys Beispiel bewirkte die Weiterentwicklung des Jazz hin zu einer vielgestaltigen, kulturell offenen Improvisationsmusik. Dass man in den frühen 1980er Jahren auf Jazzfestivals plötzlich Musikstile wie Tango Nuevo, Zydeco und Klezmer hören konnte – auch das war indirekt Don Cherrys Verdienst. Der Begriff „Weltmusik“ wurde zuerst in der Jazzwelt populär – etwa durch die international besetzten World-Music-Meetings in Baden-Baden und Donaueschingen (1984/85). Lange bevor „World Music“ zu einem brutalen Mitklatsch-Party-Tohuwabohu auf der Womex mutierte, war sie eine klingende Vision der Völkerversöhnung. Lange bevor „Multikulti“ zum Schimpfwort der deutschen Politik wurde, war es der Titel eines Albums des globalen Musikers Don Cherry (1990). In der Musik des buddhistischen Afro-Indianers lebte die Utopie von Frieden und Versöhnung. 

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