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Der Musik Werk und der Menschen Beitrag

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Das neue Handbuch der Chormusik aus dem Bärenreiter Verlag
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Mehr noch als die Sakralbauten des Abendlandes, erzählt dessen Vokalmusik davon, wie Kult allmählich zur Kultur wurde, wie eine Praxis der Beschwörung und des Erhabenen durch die Zeitläufte hindurch ins profane Alltagsleben diffundierte oder, kulturkritischer gesprochen: sich verflüchtig­te. Vom Vorsänger über die Gruppe, von der Ein- zur Mehrstimmigkeit: Angesichts der Fülle unterschiedlichster Formen von Chorleben heutzutage, ist es hin und wieder angebracht, sich diese Geschichte als eine der unendlichen Ausdifferenzierung vorzustellen, vom großen Ganzen bis in kleinste Einzelheiten.

Daher ist es gut, dass just zu dieser unserer Zeit dieses Handbuch der Chormusik erscheint, das sich dezidiert den Werken widmet – genauer ihrer rund 800 seit dem Jahr 1580, als der „Palestrinastil“ sich herausbildete, der das Alte zwar mitnimmt, gleichzeitig aber den folgenden Jahrhunderten der Chormusik Bahn bricht; mit Josquin oder Dufay allein wäre man nicht so weit gekommen. Und was die Werke anlangt, ohne sie würden wir oder das Chorleben weder über die Pandemie kommen, noch über die bloße Beschäftigung hinausgehend irgendetwas beizutragen haben. Denn in Zeiten, in denen Aufführungen und die Chorpraxis extrem eingeschränkt bis suspendiert sind, heben die Werke die Energie oder Kraft auf, die man benötigt, wenn es wieder losgehen soll. Die von den Proben- oder Aufführungsroutinen befreiten Räume, Probensäle, Kirchen, Konzertstätten, bewahren ja höchst flüchtig und bestenfalls als verblassende Erinnerung, was in ihnen so stattfand. Die wahren Speicher sind die Werke, also Gabrielis „In Ecclesiis“ und nicht der Markusdom, Bachs „Singet“-Motette und schon gar nicht eine auf einen Hafenspeicher aufgesetzte Kulturimmobilie. Ohne die Werke wüsste man gar nicht, wozu diese Bauten überhaupt gut sind.

Was aber wirklich gut ist an den Werken, das darzustellen gelingt dem Herausgeber Bernd Stegmann und seinen 21 Mitautoren durchweg auf einem einheitlich anspruchsvollen Niveau, wobei Werkgeschichten und Analysen oft dankenswerter Weise durch praktische Hinweise für die Probenarbeit vervollständigt werden. Und das ist auch nötig bei einem voluminösen Band, der die üblichen Verdächtigen (Silcher, Rheinberger, Nystedt, Whitacre) vereint mit Komplexestem (Kurtág, Ferneyhough), wo zur Freude aller Liebhaber jeglicher guter Musik, auch wenn’s nur dem Alphabet geschuldet ist, Stockhausens „Stimmung“ direkt neben Strauss’ „Abend“ steht, wo also die Chormusik als eine vielschichtige und widersprüchliche Einheit von Zeiten und Stilen begriffen werden kann.

Praktisch auch bei einem Nachschlagewerk von Rang ist, dass es Register enthält zu Komponisten, Texten und Autoren sowie den erforderlichen Besetzungen. Erstaunlich jedoch, dass man selbst angesichts des weit abgesteckten Horizonts in diesem Band manches Meisterwerk vermisst: Brahms’ wundervolle Quartette op. 92 etwa, oder Mendelssohns umwerfendes „Hora est“; warum nur Schnittkes „Bußverse“ Eingang fanden, nicht jedoch dessen wirkungsvolles Konzert für Chor, mag man noch diskutieren, nicht jedoch, dass Iannis Xenakis nicht einmal mit seinem epochalen „Nuits“ vorkommt. Nun, das lässt sich womöglich ausbügeln in Neuauflagen, die man dem Handbuch nur heftig wünschen kann. Angesichts der fortschreitenden Aufsplitterung des Chorwesens in partikuläre Genres und Identitäten, und wo zeitgleich die professionellen Sachwalter einer umfassend verstandenen Chormusik, die Rundfunkchöre, zu wenig strahlenden Zukunftsaussichten hin reformiert werden, da mag ein an ein breites Publikum adressiertes Gesamtverzeichnis der Werke und Schätze gerade noch rechtzeitig kommen. Sei’s drum, dass man sieht, was alles verlorengehen kann.

  • Handbuch der Chormusik. 800 Werke aus 6 Jahrhunderten, hrsg. von Bernd Stegmann, Bärenreiter, Kassel 2021, 718 S., € 89,99, ISBN 9-783-7618-2342-2

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