Dass Kampf oder Antagonismus der „Vater aller Dinge, aller Dinge König“ sei, wird neuerdings nicht nur durch die real sich vollziehende Politik in Erinnerung gebracht. Auch das Musiktheater erinnert, bewusst oder instinktiv, derzeit wieder verstärkt an jenen Satz, der von jenem „dunklen“ Philosophen aus Ephesus in Erinnerung blieb, der in der Ära der Perserkriege folgenträchtig über die Einheit der Gegensätze wie über Wechsel und Wandel auf Erden nachdachte (auch panta rhei wurde ja Heraklit zugeschrieben).
Am Anfang der Operngeschichte stehen Werke mit antiken Stoffen. Und periodisch kehrt das Musiktheater zu ihnen zurück. Zu Zeiten gehäuft. Allein in diesem Jahr war bereits die Uraufführung einer neuen größerformatigen „Medea“ von Michèle Reverdy in Lyon anzuzeigen (und damit eine Handlung aus der Frühgeschichte von Korinth), eine populär konzipierte Achilleus-Oper von Wim Henderickx in Antwerpen (mit dem Hintergrund des Trojanischen und dem Vordergrund des aktuellen vorderasiatischen Kriegs) sowie mit „Oedipe sur la route“ von Pierre Bartholomée in Brüssel eine Wegbeschreibung vom altklassischen Theben nach Kolonos.
So abseitig das Sujet der „Ägyptischen Helena“ vor einem dreiviertel Jahrhundert als Folie für ein halbwegs modernes Ehedrama in Dresden anmutete, so exotisch kommt heute im Kontext einer cross-over-funkelnden „Big-Band-Oper“ bei der RuhrTriennale Heliogabal des Wegs – die Biographie jenes Varius Avitus Bassianus, der als Vierzehnjähriger zum Hohen Priester des syrischen Sonnengottes Elagabal auserkoren, von seiner ehrgeizigen Großmutter 218 n. Chr. zum Kaiser von Rom promoviert wurde, dort das Volk mit Nacktheitskult und aberwitzig teuren Orgien in Raserei versetze, bereits vier Jahre später weggeputscht und ermordet wurde. An antiken Stoffen des Vorderen Orients liegen allerdings „Die Perser“ sehr viel näher, da diese früheste der erhalten gebliebenen Tragödien Sentenzen von fast atemberaubender Aktualität enthält, jedenfalls auf höchst bemerkenswerte Weise die kriegerischen Aspekte auch der Gegenwart kommentiert. Den neuerlichen Rekurs auf Aischylos suchten nun zeitgleich zwei Produktionen in Nordrhein-Westfalen, die auch von der Landes-Kulturpolitik gefördert wurden: Die Musikfabrik NRW bedachte das Stadttheater Bielefeld mit einer Arbeit des amerikanischen Komponisten und Pianisten Frederic Rzewski, Klaus Lang erfüllte einen Auftrag des Stadttheaters in Aachen.
Ritt auf dem Gis
Die Schlacht bei Marathon hatte bekanntlich weitreichende Folgen. Sie stoppte für’s Erste den großen Vormarsch der im Auftrag des Großkönigs Darios ausgerückten persischen Hegemonialmacht nach Westen. Später setzte sie Millionen Menschen – im Andenken an den Boten, der um den Preis seines Lebens die Siegesnachricht nach Athen brachte – in Bewegung. Zunächst bedeutete sie für Xerxes, den Sohn und Erben in Susa, die große Herausforderung: Er wollte die Scharte auszuwetzen, die untereinander zerstrittenen griechischen Städte liquidieren und ihr Land seinem Weltreich einverleiben. Die größte Flotte, die die Menschheit bis dahin gesehen habe, wurde mitsamt der Millionen-Armee bei der Insel Salamis vor Athen versenkt. Beiläufig bescherte dieses Massaker der Menschheit das erste erhalten gebliebene Drama.
Aischylos, einer der Helden von Marathon, referierte die Geschehnisse aus der Perspektive der doppelten Verlierer und warnte die Sieger, seine attischen Landsleute, vor Hybris. Klaus Lang aus Graz, Jahrgang 1971, als Organist und Komponist ausgebildet, kondensierte sich einen Text aus dem ältesten Drama, wofür er sich eigens die Grundlagen des Altgriechischen aneignete. Auch kompositorisch hielt er Nachlese: Das semantisch nur in Bruchstücken wahrzunehmende Wort geht weithin in den ruhigen Klang-Stoppelfeldern auf, die aus gewaltigen Partiturseiten resultieren (bis zu 80 Liniensysteme türmen sich übereinander). Die verhaltene, oft stockende, mitunter verstockt wirkende Musik beschwört Schrecken des Kriegs mit elementarer Intensität. Sie nutzt den Texthintergrund für große ruhige Gesten, in denen das vokale Moment mit dem orchestralen zusammenfließt: das groß und flächig Wirkende konstituiert sich aus winzigen Partikeln. Wie aus tiefem Dunkel glimmt der Ton. Mitunter vermeint man einen Ruf aus unbestimmter Ferne zu vernehmen oder ein Stöhnen ziemlich nah. Das vorwaltende vierfache Pianissimo wurde unter Leitung von Kapellmeister Jeremy Hulin als dezentes Mezzo-Piano präsentiert (wobei die dynamischen Vorschriften in hohem Maß eine Intention andeuten, die auch von Klangkörpern mit größerer Erfahrung in den Gefilden radikal neuer Musik nicht ganz realistisch umgesetzt werden könnten); die drei Fortissimo-Ausbrüche, Zeitzeichen des Martialischen, könnten sich noch drastischer abheben.
Manche Ohren wollen die zum ausgedehnten Muster sich entrollende Kleinteiligkeit der neuen Partitur von Klaus Lang auf die Symphonien von dessen Landsmann Anton Bruckner beziehen, mit den ihn auch die Herkunft von der Orgelbank verbindet. Doch sind die Vorbilder für die Gewinnung von großer Klangvielfalt und -schönheit aus sorgsam zusammengewirkten Details eher bei Langs Lehrer Beat Furrer zu finden. Mit den Formen, Gesten und Gesinnungen des ober- und niederösterreichischen 19. Jahrhunderts hat Langs wie selbstvergessen wirkende Modernität wohl kaum etwas am Hut.
Die aktuelle Bedeutung der aus fernen Zeiten und durch die hermetische Kunstförmigkeit hindurch grüßenden Aischylos-Partikel unterstreicht die wie in einen Setzkasten gepackte statische Bebilderung des Aachener Intendanten und Regisseurs Paul Esterhazy. Zwischen einer Leichenkammer, in der eine bleiche Hand noch zuckt, und dem Aktenraum, aus dem die Sopran-Partie des Xerxes dringt: eine (fächerübergreifende) Sanduhr, die Mutter des Großkönigs mit den Urnen der Ahnen hantierend, der Bote als armer Schuster im Keller so duster, eine Bar für die Kämpen, eine Zirkus-Prinzessin mit vielen Lufteiern, ein leeres Fach (in dem nur einmal ein Terroristen-Portrait auftaucht) und ein ewig grinsender Cowboy, der von Zeit zu Zeit in Trab fällt, dabei jedoch ein schlichter Walker bleibt. Er reitet keinen Gaul, sondern auf dem tiefen Gis. Nicht in der insgesamt statischen, im Detail akkurat bespielten Regal-Installation, sondern aus den Reihen des Orchesters taucht die markante Bassstimme von Claudius Muth als die des mahnenden Darius: „dass, wer sterblich, nicht zu hoch muss denken“.
Was ist, wenn es zu spät ist?
Eine Woche nach den neuen „Persern“ in Aachen, ausgehend vom selben uralten Text, ebenfalls relativ neu und auf die Hybris der Supermacht zielend: in Bielefeld das „Perser“-Theater von Frederic Rzweski (Jahrgang 1938). Auszüge aus den Tagebüchern des Autors unterstreichen, wie sehr die Zeitgeschichte ihn motivierte, als er sich Mitte der 80er-Jahre daran setzte, für verschiedene französische Theater ein Bühnenstück im engeren Sinn zu entwickeln (seit 1977 ist Rzewski Kompositionsprofessor in Liège): „Ein AWACS-Flugzeug schwebt über mir (…) Musik muß die Realität wiederspiegeln. Die Realität ändert sich. Darum muß die Musik sich ändern. (…) Was ist, wenn es zu spät ist? Wenn man nichts mehr tun kann?“ (1984). „Nicht einer war fähig, es anzuhalten (…). Nichts kann mich wirksamer von dem hungernden Äthiopier trennen als der Kasten, der ihn in mein Wohnzimmer bringt“ (1985). Auch Andrej Worons „Perser“-Realisierung in Bielefeld erscheint voll von Zeichen der politischen Bekundung: Sie sorgt gleichfalls von Anfang bis Ende dafür, dass die Botschaft unmittelbarer genommen werden muss. Einzelfeuer, brutal gesetzte Schüsse hinterm Blechtor, weisen den akustischen Weg. Dann hängt der Himmel voller Flieger: Der siebenköpfige Reichsrat zu Susa gafft dem Entschwinden einer Armada von papiernen Jagdbombern nach. Derweil rieselt leise der Kalk oder der Sand, der die Zeit bemisst: Die Krieger kommen nicht zurück vom Hellespont. Wiebke Frost, als „Chorführerein“ eine mit modernen Medienwassern gewaschene Schlange, moderiert mit atemberaubender Anschmiegsamkeit die wechselnden Stimmungslagen in der Hauptstadt; Combo und Batterie, in zwei Etagen rechts und links von der Bühne postiert, sekundieren der Rekonstruktion eines Fiaskos. Die Analyse der globalen Interessen, des Finanzmarkts und der Rüstungsanstrengungen kommt zielstrebig zur Sache.
Frederic Rzewski nahm Anleihe bei der Form des Radio-Lehrstücks von Bertolt Brecht und Kurt Weill aus den späten 20er-Jahren, schaltete wilde freie Schlagzeug-Improvisation zwischen die Sprechszenen und Sprechgesangs-Partien. Mancher Solo-Song verweist auf Hanns Eislers Hollywood-Lieder und der Klang der Steine auf das, was Josef A. Riedl in den 70erJahren veranstaltete. Überhaupt erinnern die scharf profilierten Tableaus intensiv an gewisse Ansätze politischen Theaters nach 1968. Das entwickelt heute wieder eigentümlichen Charme, zumal durch die surrealistischen Brechungen Worons, die bei der Beschwörung des toten Darius, der Babylonischen Sprachverwirrung und dem Stühlerücken bei Rückkehr des Xerxes aus dem Krieg ihre besten Momente vorweisen. Kaputt. Müll. Tod.
Das Stadt-Musiktheater in Aachen und Bielefeld ist jetzt ganz vorn. Es hat seine zugleich bildungsträchtigen und politisch gemünzten Hausaufgaben für’s erste wieder erledigt. Besser als manches der ganz dem Neuen verschriebenen Festivals.