Hauptbild
Anna Fortunova: Russische Kultur im Berlin der Weimarer Republik (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 105), Olms, Hildesheim 2019
Anna Fortunova: Russische Kultur im Berlin der Weimarer Republik (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 105), Olms, Hildesheim 2019
Hauptrubrik
Banner Full-Size

„Die Deutschen verstehen uns gar nicht“

Untertitel
Eine Studie zur russischen Kultur im Berlin der 1920er-Jahre
Publikationsdatum
Body

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Berlin zu einem Zen­­t­rum der Auslandsrussen, die vor dem bolschewistischen Regime, dem Bürgerkrieg und wirtschaftlicher Bedrängnis aus ihrer Heimat geflohen waren. „Man trifft hier ganz Moskau“ (Andrej Belyj); „auf Schritt und Tritt hörte man russisch reden. Dutzende von russischen Restaurants öffneten ihre Pforten: mit Balalaikas, mit Zigeunern, mit Gerstenfladen, mit Schaschliks und natürlich dem obligatorischen Sprung in der Seele“ (Ilja Ehrenburg). Der Höhepunkt war mit über 350.000 Russen im Herbst 1923 erreicht, solange der Rubel eine relative Stärke gegenüber der (hyperinflationären) Reichsmark ausspielen konnte; mit der Einführung der Rentenmark zogen viele Russen dann weiter nach Prag oder Paris. Das russische Berlin spiegelte sich kulturell unter anderem in Dutzenden von (Klein-)Verlagen sowie mehreren Zeitungen und Zeitschriften wider.

Noch 1923 wurde der Versuch unternommen, eine Berliner russische Fachzeitschrift für Musik „Muzyka“ ins Leben zu rufen, die aber über ihr erstes Erscheinen nicht hinauskam. Im Jahre 1928 lebten noch etwa 75.000 bis 100.000 russische Emigranten in Berlin, 1933 waren es dann nur noch knapp 10.000. Der Nationalsozialismus bereitete dem Berliner Auslandsrussentum, das (nicht zu vergessen) zahlreiche assimilierte russische Juden einschloss, ein rasches (und auch gewaltsames) Ende.

Soweit der historische Hintergrund von Anna Fortunovas Studie, in der erstmals das Musikleben der Berliner Auslandsrussen einer näheren Betrachtung unterzogen wird. Als Materialbasis stützt sich die Autorin gleichermaßen auf das deutsche und das russische Musikfeuilleton der 1920er-Jahre, das sie vollständig sichtet (siehe „Quellenverzeichnis“) und auswertet sowie vereinzelt um weitere Quellen wie etwa (russische) Poesie, Briefe oder musikalische Kompositionen ergänzt. Zugrunde liegt ein klar definierter Quellenkorpus, das sich, was die russische Musikkritik anbelangt, vor allem auf Artikel aus der (zwischen 1920 und 1931 erschienenen) Tageszeitung „Rul‘“ (Das Steuer) konzentriert, hinsichtlich der (sich mit russischer Musik auseinandersetzenden) deutschen Musikkritik auf die Periodika „Allgemeine musikalische Zeitung“, „Signale für die musikalische Welt“ oder „Die Musik“.

Leitend für die Studie ist die Gegenüberstellung von deutschen und russischen Sichtweisen auf russische musikalische Phänomene und Konzertereignisse, was sowohl die Musik russischer Komponisten als auch russische Interpreten einschließt. Dieser Ansatz bildet sich in der Anlage des Buchs jedoch nur unvollständig ab, denn eigentlich müsste ja dem Kapitel „Die russische Kultur in der deutschen Berliner Musikkritik“ (III.) eines über ‚russische Kultur in der russischen Berliner Musikkritik‘ antworten. Stattdessen aber geht es, viel spezieller, um „Reaktionen auf die Rezeption der russischen Kultur im ‚Westen‘ in der russischen Berliner Musikkritik“ (IV.). Das hat seinen Grund darin, dass die Autorin adäquate Wahrnehmungsmodi russischer Kultur ‚im Westen‘ grosso modo vermisst, an deren Stelle sie – etwa für den deutschen „Diskurs“ – recht eigentlich nur Stereotype am Werk sieht, wie zum Beispiel „Äußerungen, die Vorstellungen vom ‚orientalischen‘ Russland spiegeln oder auf die russische ‚Barbarei‘ eingehen“ (S. 18). Dieser Befund deckt sich mit ihren Beobachtungen am deutschen Musikschrifttum über Russland generell (Kapitel I.: „Russlands ‚Fremdheit‘ in den deutschsprachigen Musikmonographien des Ers­ten Drittels des 20. Jahrhunderts“). So kann es nicht verwundern, dass die russischen Autoren sich durch die Allgegenwart der Klischees (Alkoholismus, Wildheit, Passivität/Faulheit; vgl. S. 221) sowie eine verfestigt irreal-romantisierende oder dumpf-angstbesetzte Einstellung ihrer Heimat gegenüber (vgl. S. 259) herausgefordert fühlten. Reaktiv beschäftigten sie sich daher weniger mit der russischen Musikkultur Berlins als solcher als mit der (problematischen) Rezeption russischer Musikkultur in Berlin beziehungsweise im Westen. „Solche aus Sicht der russischen Kritiker verzerrten Vorstellungen vom ‚Russischen‘ beziehungsweise von der ‚russischen Seele‘ westeuropäischer, darunter auch deutscher Rezipienten ist eines der wichtigsten Themen der russischen Berliner Musikkritiken der Weimarer Republik“ (S. 208).

Ein weiteres Kapitel behandelt „Russ­lands ‚Weiblichkeit‘ im russischen Berliner Musikdiskurs“ (II.). Aufgezeigt wird, wie markant das Denken und Sprechen über russische natio­nale Identität an „Gendermetaphern“ und Weiblichkeitsbilder gebunden war, auch wenn „das russische nationale kollektive Selbstverständnis (unter anderem im Exil zwischen den zwei Weltkriegen) nicht auf die Gestalten der ‚Mutter Heimat‘ oder der ‚Heimat als eine junge Frau‘ reduzierbar ist“ (S. 139).

Fortunovas Arbeit dreht sich schwerpunktmäßig um die Interpretation musikjournalistischer Texte, denen sie differenzierte Deutungen mit allerlei Zwischentönen abgewinnt. Der Musik im Engeren, etwa Werkbetrachtungen oder -analysen, gilt ihr Interesse weniger, auch wird kaum einzelnen Komponisten oder Interpreten nachgegangen. Stattdessen geht es um das Bild des Russischen in der Musik und die Frage russischer (kollektiver) Identität unter den Bedingungen der Emigration. Beschrieben werden Formen und Praxen der Selbstvergewisserung nationaler Bewusstseinsgehalte wie auch das Leiden am defizitären Wissen anderer, das heißt Fremder, über die eigenen kollektiven Bewusstseinsgehalte. Gerade in der Emigration musste die heimische Kultur, voller Stolz, hochgehalten werden – auch wenn die Deutschen deren Rang und Größe nicht oder nur eingeschränkt zu teilen bereit waren („Die Deutschen verstehen uns gar nicht“; S. 208).

Alles in allem drängt sich der Eindruck auf, als seien die wechselseitigen Kontakte eher spärlich gewesen; die Auslandsrussen blieben weitgehend unter sich, und die Berliner interessierten sich nur am Rande für die Kultur ihrer neuen russischen Mitbürger.

  • Anna Fortunova: Russische Kultur im Berlin der Weimarer Republik (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 105), Olms, Hildesheim 2019, 351 S., €  68,00, ISBN 978-3-487-15761-0

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!