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Führende Figur der Body Music – Keith Terry. Foto: Paul Haggard
Führende Figur der Body Music – Keith Terry. Foto: Paul Haggard
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Die klingende Essenz der Ursprungskultur

Untertitel
Archaisch, elementar, universell: das 1st International Body Music Festival in San Francisco
Publikationsdatum
Body

Das Publikum: Von ganz jung bis gesetzt. Das Theater: Eine ehemalige Fabrik. Die Performer zwischen 30 und 60, jugendlich, frisch, begeisternd. Der Sound: Jung, modern, Jazz, Avantgarde. San Francisco: Body Music.

Keith Terry ist Pionier und führende Figur der Kunstform Body Music, weltweit als Künstler und Gastdozent tätig, auch im Salzburger Orff-Institut. Seit Jahren wünscht er sich ein Festival, das die verschiedenen Stile der instrumentenlosen Musik präsentiert und durch Begegnung Neues entstehen lässt. Jetzt hat es geklappt: Vom 02.–07. Dezember 2008 waren San Francisco und Oakland Schauplatz des „1st International Festival of Body Music“. Bodymusiker aus Bali, Brasilien, Frankreich, aus der Türkei und aus dem schwarzen, weißen und indianischen Amerika waren zu Konzerten und Workshops gekommen.

Body Music: Musik ohne Instrumente, Musik nur mit dem Körper. Alle Kulturen kennen das: Tanzen, Klatschen, Stampfen, Rufen und Singen – das Rhythmische gehört zur Natur des Menschen. Es ist archaisch, elementar und universell. Musik ohne Instrumente ist nicht immer, aber oft auch Musik „von unten“. Diane Ferlatte, Geschichtenerzählerin mit Vorfahren aus Schwarzafrika, eröffnet am 4. Dezember das erste der Konzerte im Artaud-Theatre. Mit einem Holzstock, energisch auf den Boden geschlagen, verleiht sie ihren Worten Nachdruck: „They have taken away everything from us: Our manpower, our lives, and even our drums – but they could not take away the rhythm. So we started making music with our bodies.“ Das Entstehen der Body Music in den USA und auch anderswo hat drei Bedingungen: Sklaverei, Instrumentenverbot und Armut. Hambone, Juba Dance oder Pattin´ Juba heißt im 19. Jahrhundert die Kunst des rhythmisierten Patschens auf Schenkel, Brust, Arme und Wangen. Dazu gehören auch das rhythmische Sprechen und Singen: „Hambone, Hambone, where have you been? All ’round the world and back again …“

Aus dieser musikalischen Kunst „von unten“ wird schnell Virtuosität: William Henry Lane, genannt Master Juba, ist um 1840 der schwarze Star des Ham-bone und gewinnt fast alle Wettbewerbe seiner Zeit. Die Tanz- und Bewegungsformen weißer Einwanderer aus Irland, Schottland sind neue Quellen der Inspiration, die Variationen von Bewegungsformen und Rhythmuspattern nehmen ständig zu. Heute sind Bodypercussion und Body Music überhaupt nur noch multikulturell denkbar. „Crosspulse“ heißt die Organisation von Keith Terry logischerweise, die sich der Verbreitung und Weiterentwicklung der Body Music widmet (www.crosspulse.com).

Drei Konzertabende im Artaud-Theatre zeigen, wie vielfältig die Szene in den vergangenen Jahren geworden ist. Apropos Theater. Auch das Gebäude im Mission-District von San Francisco ist ein Erlebnis. Ein Avantgarde-Theater in einer Maschinenfabrik – das ist so ungewöhnlich nicht. Was auffällt: Der große barrierefreie Zugang für Rollstuhlfahrer – und die „gotischen“ Fenster. 1925 erbaut als Fabrik für Konservendosen, diente die 20 Meter hohe Halle während des Zweiten Weltkriegs als Fertigungsraum für Flugzeugteile. Die Glasfenster der Stirnwände erinnern nicht nur an, nein, sind gotische Fenster – mit Spitzbogen und Fensterrose. Das hat nicht einmal das Ruhrgebiet geschafft. 

Body Music, das ist heute A-cappella-Gesang mit viel Scat, Throat-Singing, Beatboxing und Bodypercussion, angesiedelt im Jazz. Ausgehend von traditioneller Musik entsteht zeitgenössisch- avantgardeorientierte Musik mit Mut zur Lücke: Rhythmen und Harmonien werden dem Zuhörer nicht durch lautstarke Wiederholung von Grundakkord und „Eins“ eingebläut, sie entstehen leichtfüßig in Melodieteilen und Fragmenten im Offbeat. Body Music ist klingende Essenz der Ursprungskultur. Immer ist die ganze Musik da – wenn auch nicht in voller Hörbarkeit. Es sind die Hörerinnen und Hörer selbst, die die Musik entstehen lassen, sich im Kopf das „Fehlende“ ergänzen. Dazu braucht es ein bisschen Intelligenz – gerade das macht Spaß. 

Auch bloße Stille ist Body Music. Alex Feng, chinesischer Arzt und Tai-Chi-Lehrer in Oakland, zeigt Formen des Tai-Chi. Körperbewegung und Körperbeherrschung, Sichtbarwerden von Energie in Wellen, Bögen, Kurven, Kreisen. Verdichtung, Bewegung, lautlose Musik. Ein philosophisches und ästhetisches Vergnügen. Lautlose Musik? Souverän gedacht vom Programm-Macher Keith Terry.

Dessen hauseigene Slammin-All-Body-Band lässt wiederum völlig andere Energien entstehen. Terry selbst, auf einer Resonanzplatte stehend, ist das polyrhythmische Schlagzeug. Neben ihm Steve Hogan mit artistischem Beatboxing, dazu virtuoser Jazzgesang mit viel Scat von zwei sanften Männer- und zwei starken Frauenstimmen.

Publikumsliebling ist „Barbatuques“ aus Sao Paulo. Die Gruppe um Fernando Barba (www.barbatuques.com.br) ist zum ersten Mal in den USA. Zwölf Musikerinnen und Musiker lassen höchst filigran die brasilianische Musikalität entstehen. Neue Klangwelten entstehen auf der Basis volkstümlicher Rhythmen und Lieder mit Handgesten und Stimme, Humor, Witz und Spielfreude sind überwältigend. Zweistimmiges – Singen kann man es ja nicht nennen – Tönen durch das Schlagen mit den Fingern auf den halb geöffneten Mund ist da nur eine der neuen Klangerfahrungen. Der gemeinsame Auftritt von Slammin-All-Body-Band und Barbatuques: Standing ovations. Ein würdiger offizieller Abschluss dieses Festivals.

Die Konzerte waren – natürlich – nicht alles. Zum Gesamtkonzept der Kunstform Body Music gehört ihre Vermittlung an Lehrerinnen und Lehrer, an Eltern und Kinder, an das Publikum. Natürlich gab es ein eigenes Konzert für Familien mit Kindern. Natürlich gab es einen Workshop für Kinder mit Klatsch- und Bewegungsspielen, durchgeführt von hochrangigen Pä-dagogen wie Doug Goodkin und Sofia Lopez-Ibor, die in aller Welt und auch in Salzburg Orff-Kurse geben. Natürlich gab es an mehreren Orten in Oakland und San Francisco Kursangebote. Zum Beispiel im Destiny Arts Center. Dessen Motto und Ziel ist der „Peaceful Warrior“, sind selbstbewusste und sozialkompetente Kinder und Jugendliche aller Hautfarben und Lebenswelten  (www.destinyarts.org). 

Alle Bodymusiker sind Pädagogen und sozial engagiert. Sie wissen um die Stabilisierung der Persönlichkeit durch kompetenten und kreativen musikalischen Ausdruck. Vermittlung gehört zu ihrer Kunstform. Hier gibt es keine Trennung von Kunst und sozialer Arbeit. Kunst passiert und wirkt. Das ist alles.

Fazit der schönen Tage von San Francisco: Diese Musiker, diese Musik, diese Pädagogik – wir wollen alles in Europa, in Deutschland. Alles, und zwar sofort.

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