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Christian Gerhaher: Lyrisches Tagebuch. Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm, Verlag C. H. Beck, 334 S., Abb., € 25,00, ISBN 978-3-406-78423-1
Christian Gerhaher: Lyrisches Tagebuch. Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm, Verlag C. H. Beck, 334 S., Abb., € 25,00, ISBN 978-3-406-78423-1
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Die Kunst der Abstraktion im Konkreten

Untertitel
Christian Gerhahers Lied-Analysen in Form eines „Lyrischen Tagebuchs“
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Die Verunsicherung gehört dazu. Sie ist ein ständiger Begleiter. Nicht furchteinflößend, sondern eher erkenntnisfördernd. Man könnte sie auch Skepsis nennen. Denn sie bildet eine Art Nährboden, wenn Christian Gerhaher nachdenkt, hinterfragt, in Zweifel zieht. Nur so entwickelt er Einsichten, die der Sänger jetzt in Buchform zu teilen bereit ist – ein Gewinn für alle, die diesen Band zur Hand nehmen.

Gerhaher hat ein „Lyrisches Tagebuch“ veröffentlicht, ein Tagebuch, das keines ist und dennoch wie eines gelesen werden darf: 16 Kapiteln (Vor- und Nachspiel eingerechnet) hat er Daten und Orte zugeordnet, die er jedoch in nicht-chronologischer Reihenfolge präsentiert. Die zeitlichen und geographischen Zuordnungen sind meist als lose Verknüpfungen zu verstehen, mehr nicht. Man kann, man darf die einzelnen Abschnitte also unabhängig voneinander lesen. Inhaltlich decken die Kapitel ein Repertoire-Spektrum von „Franz Schubert bis Wolfgang Rihm“ ab, wie der Untertitel verrät. Wer beim Begriff „Tagebuch“ also zuckt und glaubt, hier lasse Christian Gerhaher vornehmlich private Einblicke zu, ist auf dem Holzweg. Erinnerungen an einen gemeinsamen Liederabend mit Edith Mathis oder eine skurrile Begegnung an einem Bahn-Schalter sind eher Ausnahmen.

Wer bereits Gerhahers Texte zur Gesamtaufnahme von Robert Schumanns Liedern gelesen hat, wird sich kaum wundern über Deutungs-Lust und -Mut, die auch diese Erkundungsreise auszeichnen. Der Hang zum Konkreten paart sich oft mit einer Neigung zur Verallgemeinerung. So stolpert man immer wieder über Sätze, die man am besten zweimal liest, bevor man ihren Gehalt überliest: „Die inhaltliche Neigung zum Abstrakten, die ich allgemein für das Lied einfordern würde, hat jedoch nichts damit zu tun, dass für dessen Darstellung die Illusion der Individualität im Medium des Sängers erforderlich ist.“ Daraus leitet sich die Frage ab, inwieweit man das eigene (Er-)Leben überhaupt in einen sängerischen Vortrag einbinden darf. Gerhaher mahnt zur Vorsicht, denn Tongebung sollte „eher das Ergebnis einer planenden Disposition sein“, nicht unbedingt der Spiegel von gerade Erlebtem. Da ist sie wieder, die Form einer wachen Skepsis und einer latenten Selbst-Distanz, die Gerhaher so gerne einfordert, vor allem von sich selbst. Er hinterfragt sich, den Text eines Liedes und die musikalische Realisierung durch den Komponisten. Das wiederum führt dazu, dass er gängigen Meinungen mehrfach misstraut. Zu Mahlers „Kindertotenliedern“ etwa schreibt er: „Ambitionierte Deutungsversuche, die beispielsweise einen Gipfel der Trostlosigkeit im dritten Lied sehen […] leuchten mir nicht ein.“ Nach Gerhahers Sicht ist das „Thema der Trauer“ in diesem Zyklus „statisch“.

Als persönliche Hommage versteht sich das Kapitel über Heinz Holliger, einen von Gerhahers Freunden und Förderern. „Schon bei unserer ersten Begegnung in München nahm er mich verzeihend an der Hand und sagte mir, es sei sehr schön gewesen, obwohl es das von meiner Seite gar nicht war. Und so ist es geblieben – vieles habe ich unter ihm in den Sand gesetzt, und seine Nachsicht wollte dennoch nicht enden.“ Auch hier wieder schwingt eine gewisse Skepsis mit sich, diesmal den eigenen Fähigkeiten gegenüber. Andererseits verschweigt Gerhaher nie seine Überzeugungen, etwa wenn er die Lieder von Johannes Brahms kritisiert, da dieser seine „eher instrumentalen, besonders sinnlichen musikalischen Einfälle den Texten sozusagen überstülpte“, oder Hugo Wolf, der in „seinem extrem ausgeprägten Vermögen klanglicher Textinterpretation und -verdeutlichung die Musik eher zur Dienerin machte, zur Dienerin der Textdeklamation.“

Ganz gleich, ob Gerhaher die Begegnung des Winterreisenden bei Schubert mit dem Leiermann am Ende des Zyklus reflektiert oder ob er den Protagonisten der „Schönen Müllerin“ als den ungleich tragischeren Helden darstellt, ob er von Beethovens „An die ferne Geliebte“ zu Bergs „Wozzeck“ springt, ob er über Othmar Schoeck oder über die „Tasso-Gedanken“ von Wolfgang Rihm schreibt – die Lektüre ist immer mit Erkenntnisgewinn verbunden, mit einer Lust am Weiterlesen, aber auch mit dem Wunsch, Nachfragen zu stellen. Insofern handelt es sich auch um ein Buch, das zur Diskussion anregt, imaginär mit dem Autor, aber auch mit sich selbst.

Ein brillantes Buch, voller Tiefe und Gedankenschärfe – auch wenn Christian Gerhaher diese Form der Anerkennung sicher in aller Bescheidenheit bezweifeln würde.

  • Christian Gerhaher: Lyrisches Tagebuch. Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm, Verlag C. H. Beck, 334 S., Abb., € 25,00, ISBN 978-3-406-78423-1

 

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