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Albrecht Gürsching. Foto: Barbara Kralle
Albrecht Gürsching. Foto: Barbara Kralle
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Die Partitur im Kopf haben

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Zum Tod des Oboisten und Komponisten Albrecht Gürsching
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Sinfonie Nr. 5 „homo homini lupus“ – Gürsching hat keine erste, zweite, dritte oder vierte Sinfonie geschrieben, nur diese eine Nr. fünf, „vielgestaltig, ausdrucksstark und innovativ in Form und Struktur“, – so beschreibt Wolfram Rüdiger sie in einer Besprechung. Das Signum gleichsam „ein gegenwartskritischer Impuls“, die Wut über das „Fortwirken der Banalität des Bösen“ in unserem barbarischen 20. Jahrhundert – so hat man Albrecht Gürsching bisher nicht gekannt, nicht erkannt – die Sinfonie symbolhaft in Töne gefasst, wurde zu einem desillusionierten Ausruf (2008).

Der 1934 in Nürnberg geborene Albrecht Gürsching hat in Detmold bei  Helmut Winschermann Oboe studiert. Er zählte bald zu den gefeierten Spitzensolisten seiner Generation, auf den man rasch aufmerksam wurde, in den Jurygremien der Wettbewerbe „Jugend musiziert“ oder als Kammermusikdozent. Bläserische Kammermusik an Musikschulen war zu einem Defizit der Instrumentalausbildung geraten. Deshalb solllte umso mehr im Anschluss an die Wettbewerbe „Jugend musiziert“ die bläserische Arbeit initiiert werden. Für derartige Ensemblekurse war Gürschings Rat und Hilfe gefragt. Auch Musik der Gegenwart sollte ihren Platz haben. Doch gab es wenig geeignete Werke des 20. Jahrhunderts. Es galt, Literatur zu finden, die dem Leistungsvermögen junger Amateurspieler gerecht werden. So vergaben die neuen Förderkurse für Ensemblespiel jedes Jahr einen Kompositionsauftrag und man lud die Komponisten zugleich ein, ihre Werke mit den Junginstrumentalisten einzuüben und auf Eignung zu testen. Gürsching war als einer der ersten gefragt worden, und er fand kräftigen Zuspruch: „Eine Besonderheit des Kurses war die Anwesenheit des Komponisten und Oboisten Albrecht Gürsching, der als Dozent mit einem Bläserquintett sein eigens für diesen Kurs komponiertes Werk einstudierte.“ So berichtete eine junge Klarinettistin, die „wie jeder von uns in mindestens zwei verschiedenen Ensembles mitspielte“.

Gürsching lernte bei Günther Bialas in Detmold und München Komposition dank eines Stipendiums der Studienstiftung des deutschen Volkes. 1975 erhielt er die R. Wagner-Medaille. 1964 lud ihn die Musikhochschule Hamburg mit einem Lehrauftrag ein. Wenig später folgte die Professur für  Theorie und Komposition sowie für Oboe und Holzbläserkammermusik. Der junge Gürsching fand nach und nach für seine Kompositionen Aufmerksamkeit, fand neue Aufträge, Uraufführungen, Einladungen zu Festivals, bei Veranstaltern. Einige seiner Kompositionen erschienen bei Verlagen wie Schott, Sikorski und Peer. Erfolg hatte er beim Stuttgarter Förderpreis (1964), beim Chorwettbewerb 1979 in Hamburg, 1969 wurde er Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg. Erwähnenswert ist an dieser Stelle Gürschings Einsatz für das Instrument Akkordeon, dem er seine besondere Aufmerksamkeit schenkte: Er baute das inzwischen technisch und klanglich weiterentwickelte Akkordeon gleichberechtigt in seine Kammermusikkompositionen, in Duos und Trios ein, um dem Instrument aus seiner Isolation zu verhelfen. Vor allem demonstrierte er dadurch, wie gut dessen registerbestimmte Klangfarben sich mit denen der verschiedenen Blasinstrumente kontrastieren ließen.  Wenn inzwischen das Akkordeon seine Position in der Musik der Gegenwart gefunden hat, ist dies zum Teil auch Gürschings aufgeschlossenem Einsatz mit zu verdanken.

Als besonderer Experte für Bläserkammermusik erwies sich der langjährige nmz-Autor Gürsching durch seinen Beitrag in der Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“ (Sachteil 1994): Die Geschichte der Harmoniemusik, die der Klavierkammermusik mit Bläsern und schließlich die des traditionellen Bläserquintetts. Ergänzend dazu finden wir 1997 in der Zeitschrift „Tibia“ Albrecht Gürschings langen Diskurs speziell zur Entstehung des Bläserquintettes, das nicht aus fünf Einzelstimmen, sondern aus einer fünfzeiligen Partitur bestehe, für welche Gürschings Empfehlung gilt: „Partitur im Kopf haben“. Im Alter von 83 Jahren verstarb Albrecht Gürsching in Hamburg.

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